Ich gehöre zu denen, die Träume nicht verwirklichen. Während mancher, von dem ich lese, offenbar ein traumhaftes Leben führt, bleibt mein Lebenstraum ein Traum. Mein Leben ist kein Traum, ich bin kein Träumer!
Täglich habe ich ein paar Träume, an die ich mich erinnere, seit Jahrzehnten; täglich erwache ich aus den merkwürdigsten Welten und finde mich wieder zurecht hier, in der im Vergleich stabilen und daher etwas trägen Umwelt.
Ungern erzähle ich meine Träume, sie scheinen mich in meinem Versteck zu verraten. Einem Freund erzählte ich mal einen. »Oooh!, das lässt tief blicken«, sagte der Freund. Über die Tiefe befragt, zuckte er die Schultern. Entweder wusste er nichts Tiefes über mich zu sagen, oder er hatte Angst, dass ich, was er über mich sagt, ihm umdeute zu nichts weiter als Eigenauskünften, von der Art: »Du spiegelst Dich in mir!« Das kann einem Deuter passieren, Propheten sollte das einmal so ausgedeutet werden.
Gewiss ist mir: Träume lassen tief blicken. Der vom Träumen Betroffene, der Träumer selbst, hat meist keine Ahnung davon – würde er sonst träumen, uns davon erzählen und uns seine Wirklichkeitsentfremdung so offen beichten? Die meisten Träume werden vergessen. Das scheint gut so zu sein, wer wollte von jedem seinen geheimsten Traum wissen? Er könnte sich als zu alltäglich entpuppen; das will keiner von seinem Traum, sonst wär’s ja nichts als ein Traum.
Als schlimm können sich verwirklichte Träume erweisen. Sie können die Menschheit verfolgen. Ein Beispiel ist das Fliegen, das dem lesenden Volk als »Menschheitstraum« präsentiert wird. Es ist Wirklichkeit geworden. Nun billig-fliegen wir überall hin. Sehe ich die Kondensstreifen draußen an, geht’s zur Zeit kreuz und quer über mich hinweg in alle Weltgegenden. Bald scheint der Stoff für weitere Souvenirs und Geschäfte, die durch diesen Traum in Wirklichkeit umgesetzt werden, auszugehen, der traumhafte Stoff ist Öl und die Umsetzung ergibt Rauch und dicke Luft. Träume können sich in Luft auflösen!
Mit einem anderen Menschheitstraum hatte ich vor einigen Tagen beim Lesen einer Biografie eine Wiederbegegnung: dem Kommunismus. Der verwirklichte Kommunismus war mehr als ein Alptraum, der idealisierte lebt vereinzelt weiter, er findet nicht einmal mehr als Wort Eingang in gescheite Aufsätze; ihn als lebendigen Traum zu erwähnen, wird kaum einem Schreiber, der sich sein Brötchen verdienen will, einfallen. Die Menschheit hat ihn ausgeträumt, den Traum von gerechter Macht- und Geldverteilung.
Vom großen Sieger beim Rennen um die Weltherrschaft, dem Kapitalismus, hat keiner gehört, dass er ein Menschheitstraum sei. Im Kapitalismus träumt womöglich keiner. Andererseits können wir alle im Kapitalismus alle unsere Träume verwirklichen. »Du hast einen Traum – dann mach ihn wahr!« Die größten und am meisten bewunderten Kapitalisten werden uns so zitiert, Bill Gates zum Beispiel. Hatte er nicht einen Traum, der für alle wahr geworden ist? Nirgends habe ich gelesen, Bill sei ein Träumer gewesen; er galt vielmehr, seiner Zeit weit voraus, als ein Spinner oder als jemand, der eine Vision hatte. Visionäre und Spinner haben wenig mit Träumen zu tun, sie sind eine eigene Kategorie. Visionäre heben sich über alles hinaus, sie sind insofern Träumer, da sie für sich selbst entscheiden, was ein wünschenswerter und Opfer fordernder Menschheitstraum sei. Dank der magischen Kraft innerer Mobilisierung gelingt ihnen dann und wann eine Umsetzung, die das allgemeine, unwürdige Leben zurück auf höhere Standards setzt.
Es ist Zeit wieder zu träumen (23 Uhr). Halb im Schlaf schon höre ich Stimmen: »Wage einen Traum zu haben!« »Erzähl mir deinen Traum!« »Erzähl keine Träume!« »Hör endlich auf zu träumen!« »Kauf Dir das Haus deiner Träume!« Es geht eine Traumfrau an mir vorbei, nicht zu mir, sie wandelt zu ihrem Traum von einem Mann; so kann ich weiterträumen und muss mich nicht mit einer Traumfrau plagen, dafür mit Hunderten, die in Traumfabriken produziert werden. Traumfabriken sind eine Industrie, die Träume schaffen, indem sie Fantasie vernichten. Wer haftet für die Träume, die produziert werden? Habe ich geträumt oder hat mir geträumt? Solche Fragen sind es, die ich mir ratlos stelle. Wenn Träume wahr werden, haben sie erst dann mit Wahrheit zu tun, wenn sie im Diesseits auftauchen? Als architektonischer Traum zum Beispiel. Lassen solche Träume tief blicken? Fragen stellen sich im Halbschlaf, zwischen Träumen und Wachen, die würde ich mich nie fragen.
Der Tag ist so gestaltet, dass ich stets viel beim Feststellen bin; die Nacht gehört dem Vagen. Ich stelle fest: Das Leben ist wie ein Traum; und ich stelle fest, es ist keiner. Traumatisch kann etwas sein – das zeigt, wie ernsthaft schädigend ein Traum ist, der keiner ist (und Alptraum genannt wird). Mal bin ich ein Träumer, mal bin ich bloß ein Träumer. Manche leben in einer Traumwelt; traumhaft schön ist sie oft genug nicht, lese ich im Bericht danach. Traumwandlerische Sicherheit gibt es in Träumen nicht so oft wie es vermuten lässt. Traumversunken ist man mehrere Stunden am Tag, man ist so versunken, dass man nicht ein Bildchen davon übrig hat.
Ich träume tatsächlich so viel, dass ich gar nicht erst Lust habe, einen Traum zu verwirklichen, denn schon bin ich im nächsten. Ich klammere mich an die Erkenntnis von anderen, dass das Leben sowieso vielleicht nur ein Traum sei, den folglich ein anderer nicht verwirklicht. Das ist gut so, denn wer seine Träume verwirklicht, hat vielleicht ausgeträumt, und dann hat es mich nie gegeben. Das will ich noch weniger als in Träumen zu leben.
Irgendeinen Traum halte ich stets fest – auch festhalten soll man nicht. »Du sollst nicht ewig an deinen Träumen festhalten«, sage ich mir, wenn ich die Zeitung lese. »Hör auf zu träumen! Hier sind die Tatsachen.«
Schon ist es passiert: Ich habe die Traumhaftung verloren, wieder Bodenhaftung gewonnen und bin hart gelandet. Dem Traum vom Fliegen folgt jedes Mal eine kleine Bruchlandung.
30. Juli 2008
Traumhaftung || @ Bernhard Karlstetter