Diese Texte sind mein Haus; man kann darin herumgehen wie in einem fremden Gebäude. Ein Haus hat hierzulande als untere Begrenzung einen Keller und als obere einen Dachboden, zwischen beiden kann man wohnen und leben. Mancher wohnt im Keller, weil er denkt, er muss; ein anderer vermutet im Speicher Geheimnisse von Vorfahren.
Das Zitat habe ich in einem Buch entnommen, das ich im Speicher des Hauses, in dem ich wohne, gefunden habe. Dort lagerten Kisten des Mieters, der einen Stockwerk tiefer wohnte. Nach einem Schlaganfall, der seine linke Seite schwer betroffen hatte, kam er in ein Pflegeheim. Seine letzten zwei Jahre verbrachte er in einem Bett, dessen Matratze er zu hart fand. Er war angehalten, Übungen mit seiner linken Hand zu machen, sie einige Zentimeter hoch zu heben und seine Finger zu bewegen. Nach einer Operation am Kehlkopf konnte er nur mehr sehr leise, kaum vernehmbar und sehr undeutlich sprechen.
In seinem Kellerbereich fand ich umgestürzte Regale mit Marmeladen, die seine Frau gemacht hatte. Ich habe seine Frau nie gesehen; sie lag acht Jahre lang krank in ihrem Bett; er hat sie gepflegt.
Bevor ich hier einzog, war das Haus ganz seines und das seiner Frau gewesen. Er tat sich anfangs schwer damit, wieder einen Mieter über sich zu haben, der Geräusche macht, womöglich hämmert und Musik hört. Er sah in sich den Hausherrn, obwohl auch er nur Mieter war, seit etwa 40 Jahren.
Seine Wohnung ist ausgeräumt worden, das meiste wurde auf den Sperrmüll verladen; sie ist seitdem nicht mehr vermietet worden. Als er einen Stock unter mir wohnte, hörte ich ihn ab und an singen, dann kam er gerade von einem Tanzabend und hatte etwas zu viel getrunken. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich ihn singen höre. Die Fenster der Wohnung öffnet niemand mehr, die Türe ist verschlossen. Sein Namensschild habe ich abgemacht, da weiterhin an ihn adressierte Werbung für Gesundheitspillen, Geheimwissen und Verbotene Informationen in seinen Briefkasten geworfen worden sind.
Damit habe ich mir den Zugang zu einem gesünderen und informierteren Leben in der Zeit des Untergangs abgeschnitten.
Die Wohnung, in der ich wohne, stand mehr als zehn Jahre leer. Es hat nicht lange gedauert, bis ich sie mit dem Sperrmüll angefüllt habe, in dem ich mich wohlfühle.
Ein Bekannter führte mich einmal durch das Haus, das er gekauft hatte. Soeben, sagte er, sei der Schamane hier gewesen, dessen Service er bestellt habe; der habe jedes Zimmer und jeden Gang durch Trommeln und Rauch und Rituale von alten Geistern befreit – im Moment sei alles rein, es sei nun durch ihn und seine Frau beziehbar. Das Haus, ein altes fränkisches Haus in einem kleinen fränkischen Ort, hatte durch einen fränkischen Schamanen, der sich mongolische, tibetische und ›indianische‹ Zeremonien angeeignet hatte, eine neue Spiritualität aus fernöstlicher Höhenluft erlangt; das Haus war befreit von den Resten der Vergangenheit, von den entkörperlichten Überbleibseln der Menschen, die hier gelebt hatten. Was das Paar in seinem Haus lebt, wird aus ihm selbst kommen und mit eigenen Geistern schnell überfüllt sein.
Mit dem Haus, das ich präsentiere, soll es umgekehrt sein. Alles ist da, was im Laufe der Jahre hereingestellt worden ist, und wer durchspaziert, und selbst was geredet worden ist. Es ist ein Geisterhaus.
Ich lebe in diesem Haus, es ist ein Bahnhof, eine Endstation sogar. Im Erdgeschoss ist ein Wartesaal, da sitzen Reisende; abends ist der Saal geschlossen, das Haus abgesperrt. Ich sehe zum Fenster hinaus und mache mir Gedanken über den Standort des Hauses; es werden ferne Geräusche herangetragen; ein Zug fährt herein; wenn er wieder abfährt, nimmt er einen Teil von mir mit; ich reise einige Kilometer weiter übers Land in meiner Vorstellung vom Globus.
So sitze ich in dem Haus, denke über die Gäste nach, die hier waren und schaue, wie die Welt rundum untergeht und der Mond aufsteigt, der Mars kreiselt und Saturn mich beherrscht und nötigt, mieslich, verdrossen und böse zu sein. Zwischenzeitlich, um fünftel eins.
10. Juli 2020
Das Haus DEXX, Eingang || @ Bernhard Karlstetter