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Als Jugendlicher habe ich mir oft einen Manuskriptfund im Speicher unseres Hauses erträumt. In Kisten lagen dort verstaubte Bücher. Ich mochte sie nicht lesen, da mir die Buchumschläge langweilige Inhalte versprachen, die Namen der Autoren sagten mir nichts, die Klappentexte verrieten, dass sie ihrer Heimat so sehr verbunden waren, dass ich das Gefühl hatte, nur wer dort und zur erzählten Zeit auch gelebt hatte, konnte sie interessant finden. Es lag ein Bündel verschnürter Briefe in einer Schachtel, die ich hätte lesen sollen: Briefe meines Vaters an meine Mutter.

Ein Gedicht meines Vaters fiel mir aus einem Rilke-Buch in die Hand, ein Sonett, »Feierabend« betitelt, das eine Stimmung von heller Sommerlichkeit in mir wachruft wie: auf einer Wiese liegen, einen Grashalm im Mund, rundum zirpende Grillen, über geerntete Felder schauen.

Zwei Wochen nachdem er das Gedicht geschrieben hatte, er hat es datiert, begann mit dem Überfall auf Polen der II. Weltkrieg. Nicht lange danach begann er auch für ihn.

Wenngleich mein Vater betonte, den »ganzen Schwindel« von Anfang an durchschaut zu haben, fand ich in einem Kalender des Jahres 1943 die wenigen sich ähnelnden, parolenhaften Eintragungen: »Führerrede«, »Sieg für unseren Führer«, »Endsieg steht bevor«. Wiedergaben des Volksempfängers, der Offiziere, Hoffnungen, die Instruktionen der Vorgesetzten waren; und kein Ich, kein Zweifel. Der Krieg, dem er sechs Jahre lang gedient hatte, war die Einlösung aller Gelöbnisse, aller Versprechen und Fahneneide und Treue-Einschwörungen, er war das Ziel seiner Ausbildung, das Ziel aller politischen Propaganda, aller Zeltlager, in denen er als Jugendlicher gewesen, er war das Ziel, die Tat, mit der das ›Volk ohne Raum‹ nach dem Raum, in dem es leben wollte, mordend griff.

Erzählt hat er eindrücklich von seiner Malaria bei Monte Casino, als man ihn aufgegeben hatte und in eine Krankenbaracke legte, ›in der gestorben wurde‹. Manch wundersame Rettung ohne je wieder im Leben an Wunder zu glauben; eine Begegnung mit Hermann Göring, der ihn angeblich für die Luftwaffe haben wollte, hat ihn sehr beeindruckt; die Einladung eines deutschen Offiziers in den Landsitz eines italienischen Adeligen – »wie dort gegessen wurde, so etwas gibt es nicht mehr!«; eine Flucht nach Hause, die ihn, da nicht erlaubt, beinahe das Leben gekostet hätte; die Gefangenschaft in französischen Lagern, bei der so viele Kameraden hungers starben; und schließlich nicht mehr im Krieg: die so herzliche Aufnahme bei einem französischen nachkommenlosen Bauern, der ihm den Hof vermachen wollte. Seitdem war mein Vater, des Französischen perfekt mächtig, frankophil. In Frankreich war stets alles gut, im Nachkriegsdeutschland dagegen herrschte die Hektik des Wiederaufbaus, das gedemütigte Selbstbewusstsein richtete sich auf an den Siegern und wurde gestillt mit glitzernder Warenwelt, mit der eigenen Leistung, für die das zerstörte Land eine Kraftnahrung, eine erneut sich in Aufgabe senkende Idee war.

Abscheu hat mein Vater mir dem Krieg gegenüber vermittelt, Abscheu vor Waffen. Mir wurde nie, wie es bei Freunden geschah, mit dem ›Barras‹ gedroht – ›dort wirst du es lernen!‹ Disziplin und Ordnung; mit Strenge, die noch niemandem geschadet habe.

Mein Vater erzählte nur vom Krieg an den großen Feier- und Familientagen, wenn nach dem Essen alle beisammen saßen. Es lag eine Zufriedenheit über das Erreichte in den Gläsern Wein, die getrunken wurden, eine fette Stimmung wie Gänsebraten deckte bittere Erfahrungen und Demütigungen der Nachkriegsjahre zu. Nach zwei Jahren Kriegsgefangenschaft kam er zurück in sein Heimatdorf, wo er, so ist es mir aus den wenigen Sätzen darüber in Erinnerung, nicht so willkommen war, wie er es ersehnt hatte. Große Pläne gelangten in der Folge nicht zur Ausführung. Neue Deutsche Politik behagte ihm, der der Sozialdemokratie zugewandt war, dann um so weniger. Das Vaterland war wieder daran eines zu werden, das Vaterland, das einen betrogen hatte, wollte er verlassen, aber er ist geblieben. Seine Kinder kamen zur Welt und damit der Stolz auf die Selbständigkeit, denn er konnte uns alle ›ernähren‹. Die Nachkriegsjahre und der Krieg wurden zur Erinnerung. Die Sechziger-Jahre versprachen mit den Studentenbewegungen endlich einmal einen geistigen Aufbruch, der sich gegen die Herrschenden wendete. Meine Mutter sagte mir einmal, dass Vater viele Hoffnungen in diese Generation hätte. Doch die wurde zu Terroristen und langsam kehrte mein Vater zu Vorstellungen aus seiner Jugend zurück, entpolitisiert zwar, verstärkt durch die Bitterkeit, die das Bewusstsein einer verlorenen Jugend gedeihen ließ. Endlos forderten in den Siebzigern die Arbeiter mehr Lohn, sie streikten mehr, als dass sie arbeiteten, immer mehr Geld zahlte Deutschland als Wiedergutmachung an ›Israel und an die Zigeuner‹ – das Wort Jude schien er zu vermeiden. Schon die aus Polen und der Tschechoslowakei Vertriebenen hatten sich nur bereichert.

Zu der Zeit etwa, irgendwann Mitte der Siebziger, war es, dass ich im Speicher Vaters Gedicht gefunden hatte. Sein beschriebenes Sommeridyll brachte ihn mir, der ich in Auseinandersetzungen mit ihm oft brüsk die Türen zuschlug, näher, ließ so etwas wie ein Begreifen aufkeimen. Ich sah das Bild eines jungen Mannes, etwas älter als ich und mir selbst so ähnlich, wie die Tanten oft sagten, ›ganz der Vater! Wie aus dem Gesicht geschnitten!‹ – war er so wie ich gewesen und könnte ich so wie er werden?

»Feierabend« ist die mir unbekannt gebliebene Innenwelt meines Vaters. Der Titel des Gedichtes und das wie eine Unterschrift gesetzte Entstehungsdatum sind wie die Dauben eines stark gewölbten Fasses, drinnen gefüllte Innenwelt, die vor der Explosion steht. Die Explosion ist nicht die Gefühlswelt meines Vaters, ist mein Wissen, dass kurz darauf die Welt in Brand gesetzt worden war. Nichtsahnend beschreibt das Gedicht eine ruhevolle Abendstimmung – und mich hat mit dem Gedicht, mit seinem Datum, immerzu beschäftigt, dass das Feuer gelegt war, dass man, auch in sich selbst gekehrt, bereits in jungen Jahren in Propaganda gehüllt, vielleicht trotzdem etwas hätte sehen können und die vielbesagte Ruhe vor dem Sturm nicht nur als Ruhe erlebt. Je mehr ich Dichtung misstraut habe, desto mehr habe ich mich in sie verliebt. Nicht das Dynamit sein, an das andere ihre Lunte legen. In den Tag leben, nicht ohne wahrzunehmen, welcher Tag ist.

Einige Male habe ich versucht, in den Fotoalben, die Vater in einem Fach im Wohnzimmerschrank, unter Papieren wie verschlossen hielt, etwas aus der von ihm erlebten Zeit mir zu vergegenwärtigen, zwei Alben mit Fotos aus der Zeit des Krieges. Sie verbergen wie Familien-Fotoalben den Alltag mehr als dass sie ihn aufscheinen lassen, wiewohl sie alltägliche Szenen wiedergeben: nackte Männer beim Baden in einem Fluss, in den tiefen Horizont führende Straßen mit Einheits-PKWs der Wehrmacht und Panzern, Landschaften – stillegehaltene Augenblicke in sepiabraun. Idyllen in fremden Ländern, Nachmittage. Sommerabende.

»Wir sind die beschissene Generation«, sagt mein Vater heute, mit dem zunehmendem Alter mehr und mehr verbittert über die Vergangenheit, die darüber hinaus von anderen okkupiert und interpretiert wird. »Soldaten sind Mörder« – dieser Tucholsky-Satz, des Öfteren zitiert angelegentlich einer heftige Debatten auslösenden Ausstellung über die ›Wehrmacht‹, ließ ihn sehr aufgebracht werden. Er und die Kameraden, die erlebt und erlitten hatten, sie waren keine Mörder, sie waren ›Verheizte‹.
Man nennt sie jetzt Mörder, denen die Jugend und die Blüte der Jahre gestohlen wurde. Nicht zuletzt mit Propaganda, die tief ins Herz drang und nie mehr hinaus konnte.

Als ich selbst zu schreiben anfing, fühlte ich oft etwas von der Sommerfeierabend-Zeit in mir, so als habe ich sie hinter mir, als grase mein lyrisches Ich im Idyll eines Sommerabends. Im Augenblick vor dem Wendepunkt glaubte ich zu leben und dachte, man weiß es erst nachher, also sei jetzt schon wach! Und wenn du immer wach bist, wird es nicht geschehen!

Aber es ereignet sich. Nackte fröhliche, badende Männer werden zu Mördern, werden es nie verzeihen, wenn man sie es nicht vergessen lässt.

Während ich hier sitze vor meinem Laptop und versuche über das Gedicht meines Vaters mir klarer zu werden, ein Ende zu finden in dem Text, einen letzten Punkt zu setzen, kam es mir zwischendurch wieder, als schriebe ich hier an Gedanken eines Mörders und Ermordeten zugleich. Das ist sicherlich kein letzter Punkt; der könnte das Datum sein, meine Unterschrift, jetzt, der Augenblick; 20.4.2002.

Mein Vater war kein Dichter der ›inneren Emigration‹, die nach 1945 von Dichtern erfunden wurde, um ihre Blumen- und Feierabend-Lyrik umzutopfen. Es fehlte ihm zu dieser Stilisierung die Größe, die Reife und die Feigheit wirklicher Verdichter nazionaler Begeistigung.

Feierabend

Der Glocke schwingendes Läuten
durchzittert die milde Abendluft.
Vom Turme her im letzten Leuchten
klingt es feierlich in des Sommers reifem Duft.

Da steht der Wanderer stille
und der Landsmann hält in seiner Arbeit inne:
Gottes Arme sind umfangen
und entführen sie mit höherem Verlangen.

Nebelschwaden steigen allgemach im Tale
verschleiernd Bach und Busch und Baum
und schmiegen sich wie tanzende Mädchen im Saale

eng an den Bergessaum.
Und im Träumen wiegst du dich sacht
In die schützenden Arme der Nacht.

23. Februar 1939

20. April 2002

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Feierabend || @ Bernhard Karlstetter