Vor Jahren … vor vielen Jahren ließ ich mir von einem Freund einige Träume erklären; ich hatte die Hoffnung, meine Träume würden eine Bedeutung haben, die mir helfen würden hinter Rätsel zu kommen, die ich mir selbst war (und bin). Als ich mit seiner Hilfe hinter die Rätseln kam, merkte ich, dass ich nichts gewonnen hatte, und nichts verloren an diesem neuen, so klaren Ort. Ich stehe vielleicht nun mit dem Gesicht zur Wand.
Er versicherte mir, Träume zu erklären wäre sehr einfach; nichts einfacher als das! Ich dachte: ›Ich versteh’s nicht. Ist das wie mit Gedichten und Gedichtinterpretation im Deutschunterricht?‹ Da mein Freund Zauberer ist und ich dort hinblicke, wohin er mich lenkt, wenn er mir einen Kartentrick vorführt, begriff ich, dass es für ihn nichts weiter als das Heben eines Tuches sein müsse und schon wäre der Hase auf dem Tisch. Der Hase ist die Überraschung, die erwartet wird. Mein Freund, der Zauberer, weiß wie sich Aufmerksamkeit lenken lässt und damit auch wie etwas vor den Augen und dem Verstand zu verhüllen oder enthüllen ist.
Das könnte meine Geschichte vom Träumen und vom Traumerzählen sein, von den Teilen der eigenen Person, die der andern was zu sagen hat – oder nicht; vom Nachtdenken und Tagesleben. Die eine Person hat das Wort, die andere Bilder. Und die das Wort hat, übersetzt Bilder in Worte. Irgendwo zwischen diesen Denkweisen beginne ich zu begreifen, ohne Worte, und frage mich, wer bin ich und wo stehe ich, und nur eines kann ich nicht sehen: mich selbst. Wer an der Wand steht – welche Hintergedanken erwarten ihn dort?
Klären Träume auf? Irgendetwas? Sind sie Botschaften aus mystischer Welterschauung? Kommen sie vom tieferen oder höheren Ich? oder sind sie ein Freiblasen der verstopften Hirnkanäle mit atmosphärischen Blitzlichtern? oder Weltfluchten von der Mühsal oder Langeweile des Alltags? Ist alles nicht schlecht für mich.
Mir scheinen sie das zu sein, was ich von ihnen halte – das ist, was ich bekomme.
Warum erwähne ich den Zusammenhang mit Träumen im Untertitel überhaupt? Was ist die Absicht? Welche Aussicht ist damit verbunden? Vom hohen Elfenbeinturm herab aufs Land? Vom Traumleben in das Leben ohne Traum? Ich würde gerne einen Elfenbeinturm sehen, einmal wenigstens.
Ich ließ mir Träume erklären, um zu herauszufinden, was ich denke, was ich denke hinter meinen Gedanken. Ich kam nicht dahinter, blieb davor stehen, trotz Erklärung … deswegen schreibe ich. Der Schlüssel liegt im Alphabet …
Für den Verständigen könnten Träume eine Art Mésalliance sein, wie sie in besseren Zeiten adlige Familien erleben durften mit Sprösslingen, die vom Adel ablassen wollten. Schriftstellern wird es nicht verziehen, wenn sie als Inspiration Träume angeben. So las ich in einem Vorwort zu einem Buch eines Schriftstellers, an dem mir sehr liegt, er habe etwas »Verbotenes« getan, als er ein Buch mit Traumnotaten veröffentlicht hatte. ›Traumdiktate‹ wurden sie genannt. Ein Diktat ist eines Schriftstellers unwürdig. Er verfasst Texte, die mal zum Diktat degradiert werden können. Es gibt die Art Künstler, die unter Zwang handeln; sie sind die große Ausnahme und sind gewöhnlich ›Ausnahmekünstler‹; sie können nicht anders, Künstler vom ersten Haarspliss bis zur Hornhautverdickung am kleinen Zeh. Das sind die einzigen, dir müssen dürfen, weil sie müssen müssen.
Es gibt die Art Schriftsteller, die in langatmig, merkwürdig kurzweiligen, spirituellen Büchern einen fünf Meter langen Wanderweg beschreiben hinter die Mauer, die das Dies-und-Dasseits vom Jenseits trennt, die zwischen den zwei-drei Dingen
zwischen Himmel und Erde nicht die Luftverschmutzung erkennen, sondern die Aerosole der Welt-Vergeisterung einatmen. Sie flechten gerne Träume ein, bei denen ich mir die Augen befeuchten muss, weil sie wegen zu starken Lichtstroms austrocknen würden.
Zweiundsechzig Traumerzählungen sind nicht zweiundsechzig Träume. Es sind keine ›Traumdiktate‹ hier versammelt. Es sind Geschichten (aus einem kurzen Zeitraum), die Motive wiederholen und Welten etwas verkehrt herum erzählen.
Blitzlichter & Weltenflucht
am 5. August 2020
Blitzlichter & Weltenflucht || @ Bernhard Karlstetter