Tiln Rom → Bingo, 1. Brief

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Es fängt an. So möchte ich beginnen.

Ich fange an. Diesen ersten Satz mir erwählend bei einem heiteren Gläschen Wein, die Lippen zum Trinken gerundet, in Erwartung des immer wieder vor- und zurückgeschlürften Geschmacks. Ich fange an all so, jetzt die Beine, diese haarigen nackten von mir gestreckt und meine braun-grünen Augen über die Landschaft rollend. Ich fange mit der Landschaft an, ich hebe über sie hinweg, von links nach rechts zuerst, mag sein in Wellenbewegungen nach oben und unten abgelenkt, an kleinen Farbtüpfelchen haften bleibend, einem kleinen Wäldchen hier, einer Bergspitze vielleicht dort, einer Landstraße, vielmehr einem Striche folgend, beschreibend jenem Wölkchen dort sehnsüchtig nachwandernd in aller Ruhe, das Gläschen Wein gen Himmel gehoben – ein Himmelchen eher gegen diese blutrote Glut, die sich zum Glasrande hin verdunkelt – dieses Paar Augen alles aufnehmend.

So könnte ich anfangen, wäre nicht der Wein und das kräftige Stück cremefarbenen Käses auf dem Tisch, auf seinem fettigen Papiere ruhend, mich zu ganz anderem hinführend.

Herrlich dieser erste Tag, den der Herr wie für mich mit Ruhe getauft und geweiht hat, um mich beginnen zu lassen, ja, wie erschaffen für meine Geburt, meine ersten Worte in das Glasrund der Welt. Nicht Erinnerung ist mein Auftrag, sondern Geburt und Liebe. Wie vieles, sehe ich, lässt sich noch gebären, und was nicht alles lieben!

Mein Ort, an den ich mich begebe, die ganze Zeit über während ich hier gebäre, ja, den einzigen, den ich bisher gefunden und ihn nur mehr – das will ich mir fest zum Ziele nehmen – in der Fantasie verlassend, bist Du, Geliebte, meine erste uranfängliche Heimat, mein Glossar, aus dem ich uns beide nehme und all die andern, denen wir begegnen, Du Schöne, Herrliche, ich wiederhole Dich willkommen mit meinen Sinnen von einer Landschaft in die andere. Jede von diesen birgt eine Droge, die ich koste, jede hat Heimat, Dich, Unendliche. Lass mich zu Dir reden und schwätzen: Übertreibend übertreibe ich nicht; unendlich, ja dieses große, immer zu große Wörtchen ist für Dich Irdische für mich nicht zu groß, zu schön. Was ich schön finde, will ich Dir sagen. Wenn Dir mein Schwall zu viel ist, hör um des Tones willen zu: Ich will Dich betäuben, dass Du mir horchst, horchst meinem ungenügend beschriebenen Gefallen Deiner.

Ich möchte beginnen, die Lust ausschöpfen, jung zu sein oder erst geboren, dem Jungfrauenbrunnen entstiegen, all die kleinen Köstlichkeiten des alltäglichen Sprechens wieder durchleben, Klischee verbreitend, herrlich in den Tag hinein; hinaus aus den vielen vielen Öffnungen meines Häuschens: Mir gegenüber ist Land. Habe ich es schon beschrieben, wie es vielleicht, nein, gewiss, wie es gewiss aussehen könnte?

Nochmals an diesem ersten Tag höre ich Musik. Die Beine von mir gestreckt über die Holztischkante, ländlich alles, der wie Sand zerbröckelnder Käse das Gläschen Wein und die Bouteille daneben, ein derber Laib dunklen Bauernbrotes mit saftig darin stakendem Messer. Von meinem subjektiven Blick aus ragen zwei Kanten des Tisches bereits in den Himmel, welcher wolkenlos wohnzimmerhimmelblau getönt ist, türkis untermischt. Deutschgrün die Tannen, die in den Himmel ragen, oberbairisch almenhaft wellig das Land dort unter dem Tisch. Ja, gerade so ist mir jetzt zumute; ich würde mich, um dem das Wichtigste hinzuzufügen, würde mich gerne vorstellen, Dir wieder einmal mit einem neuen, nichtssagenden Namen entgegentreten, Geliebte, womit wir uns dann anfüllen für ein paar Stunden, Wunderbare:

Ich liebe Dich.

Anders könnte ich auch sagen: Alles ist heute der Wein, den ich mich nun gänzlich zur Leere zu leeren anschicke, in Wärme gebadet und Landschaft und Pasteten, von Essen will ich reden, Pasteten in der Landschaft verteilt besteigen. Mir ist hungrig zumute nach weit mehr. Nach Landschaft, ob erobernd oder betrachtend; nur gleichgültig kann ich nicht sein, seit ich Dich bemerkt, als Du den Weg heraufkamst in bairischer Wandertracht, o Wunder der Wesensverwandlung, und ich verwechselte, wie so oft noch, den bloßen sinnlichen Genuss Deiner Erscheinung, den Du mir bereitest, mit Liebe, wesensverwandelnde und täuschende Verwechslung, denn wahr bin ich, verwechselte mit Liebe Deine Erscheinung gegen den himmlischen Himmel mit Seelenbrand und begrüßte Dich heimtückisch ungerührt, Biederkeit vortäuschend, zu meinem mitt-täglichen Gelage. Und so plauderten wir hier in dieser Landschaft, eingegrenzt zwischen den Tannen, die nun, da wir sie nicht mehr beachten, vor sich hindämmern, ja, man sagt, sie stürben sogar.

Es ist eben doch so, wie mein Großvater mütterlicherseits behauptete: »Weißt Du, Bingolein, aller Anfang ist schwer.« Er sagte es so einfach (als ob ich sein wäre, dabei war er ein besitzanspruchsloser guter Opa, aber ja, er ist auch nicht mein Opa). Das Leben ist schwer, wie nun aller Anfang, und so muss ich noch einmal beginnen.

Der zweite Anfang

Es ist an der Zeit, mich vorzustellen mit Handkuss. Ich heiße Tamerlan? seit Anbeginn meines Unwesens. Warum heiße ich gerade so, und nicht, meinetwegen: Gottfried … oder Wernbard? Warum gerade Tamerlan? mit Fragezeichen. Ich nenne mich gerne so, wenn ich so rede. Schlicht und einfach etwas Pathothetisches.

Ich erhebe das Glas Wein auf meinen Großvater, der es mir mit seinem Satz nicht leicht gemacht hat, und eigentlich er, ja er hat das Recht, nun wirklich zu Beginn meines Lebens zu stehen.

Wo lauft ihr hin, ihr Wolken, ihr, die ihr schon zu schwer seid, um euch einer Anrede für würdig zu halten. Schlagt nieder über diese verderbte Menschheit, lasst euch melken und bringt die Sintflut, dass wir endlich eingehen in das lang ersehnte Himmelreich; bringt das Nass, das uns dort versprochenermaßen hinschwemmen mag. Aber lasst mich zuvor noch genießen und lauft einstweilen immer schön weiter, hinüber auf die andere Seite des Gebirges.

Das ist die Wetterlage, von der Timur berichtet, der ebenfalls nicht stille-schweigen kann. Habe ich ihn schon erwähnt? den Dunkelsommer und Großaltadligen, der keine Musik hört und liebt. Diese dramatis persona, wahrhaft. Herr Wahrheit und Realmensch. Seine Zeit läuft nie ab, bleibt einfach stehen. Dieser Kohlen-Schwärze-Schweige-Nöter, Timur also, ein Genosse des Leidens, ist nicht fähig, sich schönes Wetter zu denken, es sich zu erlügen: Seine Menschwerdung zieht sich hinaus. Geliebte, der Wein macht mich stimmungsfähig über mein Brüderchen – er nennt mich so – hinwegzuschweifen und herabzuregnen wie diese von ihm ersehnten Wolken, die mein herrlich kitschiges Azur verdecken wollen, mein von Sternen und Dir erfülltes Nachtblau, meinen tief erglaubten Un-Sinn, Ur-Un-Sinn und Wetterunempfindlichkeit und so weiter und sofort. Schön ist der Tag, an dem ich jedenfalls wiederum keine Erkenntnis geschöpft.

Zugegeben, ich bin nicht weiter als über mein Glas Wein hin-ausgelangt und tiefer schon gar nicht als bis zu seines Grundes Grund in meiner Hände Rund. Zweimal habe ich den Krug geleert auf der Suche nach einem Anfang unter den zweiundsiebzig möglichen, die ich mir in meiner Zweiundsiebzigfaltigkeit erdenken konnte – einen nur mehr und ich hätte mich wirklich groß finden können; so aber muss ich mir immer wieder, wieder und wieder, ja geradezu immerzu sagen lassen, höre es schon: Ich sei ein Versager, ein unglücklicher Spieler, ja, was mich ehrt: ein Schwätzer gar von der Sorte, die ein ganzes dickes fettes Buch leer schreiben können, Buchstabe um Buchstabe – welch unheilvolle Arbeit! Wer weiß, vielleicht karikiere ich mich selbst, mit zwei Meter langen, in die grüne Luft gestreckten Esels-Narren-Ohren und einer Sprechblase vor meinem linken Auge, das hinter diesem leeren Fragezeichen weit aufgerissen und baff in die eigene Hohlheit glotzt, also ferne schaut. Nein, ganz und gar nicht liegt es mir, länger als fünf Minuten mich auf eine Sache zu konzentrieren, es sei denn … es folgen drei Punkte, in denen ich Ahnungen gepflegt sein lasse für uns Minderjährige und Pennälerliteraten. Ich muss es aussprechen, jede Schnurrpfeiferei und Ohrenblasung, die die volle Minute im Hupfauf gebiert: Ich werf Dich in die Höhe und ganz schamlos fang ich Dich auf und trage Dich zu Bett für eine kleine Maulleckerei, ja, alles, das mit Mund zu tun hat, gehört hierher; ich spreche schließlich und schwelge. Dein Mund verführt mich. Doch wohin?

Schluss, aus, genug, hier muss endlich Ende sein.

Nein, auf keinen Fall! Nicht jetzt, da dieser wilde Vogel vor meinem Fenster singt, im Wortnachklang könnte es ein Pirol, eine Amsel oder eine Nachtigall sein. Jedenfalls auch er in der Balz oder aber nur für sich, wie es ihm der Augenblick, jener einfache, allumfassende, eingibt. Sein Gesang ist Stille. Hörst Du auch zu, Anna? Seine Noten sind die Spangen um Dein Haar, die silbernen langen Ohrringe aus vergangener Zeit, und die Sternschnuppen, die mir in die Hand fielen, um sie für Dich zu sammeln. Dein Mund zwei rote Schilfblätter, die unterm Mond wuchsen.

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Bingo, 1. Brief || @ Bernhard Karlstetter