Elftes Kapitel aus »Der Einsame, der Melancholische, der fassunglos Entzückte«
Die Nacht vom sechsten auf den siebten Mai hat ein Vorspiel: Der Wind hing lange verzweifelt in den Bäumen und kuschelte sich in die Sträucher im Vorgarten von Pamela und Bömmel Banzens Haus. Der Wind ging heute mit einem Nieseln langsam über die gerade Vorstadtstraße und ließ einen grauen nassen Spiegel auf der Teerdecke zurück. Von Zeit zu Zeit rollte ein farbiges Auto herauf und verschwand am anderen ewigen Ende der Straße. Ein Kind warf Steine auf das Verkehrsschild an der Straßenecke und ging dann weiter in seiner gelben Regenhaut. Es wurde allmählich dunkel und das Licht zog sich zurück in die bläulich strahlenden Wohnzimmerfenster, bis die Straßenlampe einen orangebraunen Dunst über die Straße warf.
Tiln Roms Füße wanderten oder schlurften über das Pflaster. Seine Füße steckten in braunen Lederschuhen mit rundem, weichem Schnitt. Sie setzten auf wie Kufen eines Schaukelpferdes und rollten ab und setzten wieder auf und rollten ab. Seine Hand fuhr in die linke Seitentasche seines Trenchcoats und drehte an einem kleinen Rad seines Walkmans. Er blieb stehen, drehte sich selbst einmal um die eigene Achse und hörte der leisen Musik zu, ganz Achtsamkeit! und schmunzelte wegen des Eindrucks, dessen er sich nicht erwehren konnte. Zwei Violinen hier in dieser Straße kamen von links und rechts aufeinander zu, trafen sich in der Mitte, spielten für einen Moment dasselbe, trennten sich wieder und gingen ihre Richtung weiter. Die eine spielte eine aufsteigende Melodie, die andere sank hinab. Das war so schön! Er nahm den Kopfhörer und steckte ihn zurück in die Seitentasche. Fröhlich ging er weiter bis ans Ende der Straße.
Für heute Abend war er bei den Banzens eingeladen. Das war in letzter Zeit immer ein schwieriger Besuch geworden, wegen der Knisterspannung zwischen Pamela und ihm einerseits und der Knasterspannung zwischen Bömmel und ihm andererseits.
Bömmel liebte über alles seine Sammlung von Tangomusik und seine Träume und seine Fotos, worauf nichts anderes zu sehen war als Nebel und Nebel – das ist doch nichts anderes als etwas, das für etwas anderes steht. War denn ein Nebel etwas Eigentliches? Es war für Herrn Rom, wenn er diese Bilder betrachtete, wie wenn er Bömmel nackt herumlaufen sähe. Es war so eine persönliche Erfahrung hinter dem Schleier einer Fotografie verborgen wie im Nachtgewand. Das war unangenehm für Tiln Rom. Pamela hingegen schien ihm immer näher zu kommen, aber noch, noch war nichts entschieden in irgendeiner Richtung. Es war wie im Urwald: auf ein Boot warten, das erst in Tagen kommen konnte. Es war wie an einem regnerischen Ort, der selbst kein Ziel war.
Bömmel hatte sich vorgenommen, sich um Tiln Rom zu bekümmern. Er hatte ihm eine Arbeit als Werbetexter besorgt, die ihm zwar nicht lag, ihn aber doch ein wenig ernährte – und Nahrung braucht eine Grundlage, eine Grundlage aus Geld. Tiln Rom sank allmählich wohlgemut in die Gemeinschaft ein wie in ein ganz großes Bett mit ganz weichen, aber stählernen Federn; und so weich war auch sein Schlaf geworden wie schon lange nicht mehr.
Der Wind berührte sanft seine Haare, als er seinen Hut abnahm. Seit einigen Tagen berührten ihn auch Gefühle und Stimmungen, die er gar nicht mehr gekannt hatte. Er sah die alten Dinge neu, die ganz gewöhnlichen überhaupt sehr ungewöhnlich. Nicht wirklich neu, anders, und doch wie zum ersten Mal. Das ist ein Unterschied, möchte ich hier feststellen! Zum ersten Mal sah er sie nicht eigentlich, sondern nur im Vergleich zum ersten Mal. Worauf will ich hinaus? Das lässt sich so genau
nicht sagen, weil da immer Ungenauigkeiten bleiben, Löcher und Höhlen und dunkle Ecken, in denen etwas verborgen bleibt, und Unschärfen, die dann ein womöglich völlig falsches Bild ergeben von der Gefühlswelt des Herrn Rom, wenn einer seinen Blick genau dahin lenkt, in das, was meine Beschreibung auslässt, in das, was zwischen den Zeilen laut und vernehmlich murmelt. Diese Zwischenzeilen, diese unbeschreibbaren Leerräume machen mich ganz madig, wenn ich nur daran denke; aber ohne Zwischenzeilen lässt sich ein Text nicht schreiben.
Was also ist das Problem, das ich hier zu beschreiben versuche? aber es umgehe! Tiln Rom hatte ein Auge auf Pamela geworfen. Eines nur? Beide Augen! Aber: ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!‹ stand da groß und in breiten Lettern auf den Werbetafeln am Wegesrand, der zu einem anständigen Leben führte. Tiln Rom, das weiß ich, nahm so manches zu leicht auf die leichte Schulter, und also: schulterte er dieses Plakat und ging weiter seinen Weg. Wie aber sieht das für Pamela aus: ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Mann‹ – gibt es diesen Satz überhaupt? Er klingt so gar nicht klassisch und geläufig. Wie ist also die moralische Umwelt der Frauen? Ich gestehe, das weiß ich nicht. Jedenfalls ist sie anders als bei uns Kameraden, die wir mal in den Krieg ziehen und mal nicht, je nach Lage & Gesinnung, Gesittung & Laune.
Tiln Rom überließ sich beim Spazierengehen seinen Stimmungen und seinen holpernden Gedanken; sie holperten mit ihm einher und hatten noch etwas mehr Auslauf als er selbst. Er ließ sich gleiten; er gleitete in den Wald hinein, er gleitete über die Straßen und er glitt über die Häuser. Im Gleiten wurde so vieles gleich: Tiln Rom sah die vielen Menschen überall beim Arbeiten; sie waren nur mit sich und ihren Produkten beschäftigt, waren versunken in sich; nur all die anderen fremden Dinge um die Menschen herum sahen sich einander an – darauf werde ich später eingehen. Ja, die Menschen bestellten Äcker und fuhren Auto, Rad oder Kinderwagen, leerten Müllbehälter und schrieben Zahlen auf, aßen ihre Hähnchen und löffelten ihre Suppe, sahen über den Tellerrand hinaus in Nachbars blühenden Garten oder auf den Unterteller und mähten Rasen nicht nur an Wochenenden; die Menschen flogen durch die Luft, gondelten über Berge; schmunzelten, wenn keine Vorschrift dem widersprach; tobten, wenn ihnen die Willensentfaltung gerade zusagte; sie fuhren immer und immer wieder Panzer und sahen fern durch alle möglichen Scheiben und Bildschirme; und noch viele andere völlig unzählbare Dinge mehr taten die Menschen, von denen ihre Leben in ihrer Fülle übervoll sind und auseinanderlaufen. Der Mensch hatte große Freude am Besitz und war traurig über den Verlust desselben im Speziellen. Er schrie den einen an und redete sanft mit dem andern oder einen, er grüßte die Nachbarin und ließ den Nachbarn links liegen und machte bestimmt und entschlossen die Türe hinter sich zu.
Aber das war es nicht, nicht im Mindesten, was Tiln Rom beschäftigte, wovor ihm ein wenig bange wurde. Im Wald, als er da so glitt oder flog oder gleitete, dachte er sich: ›Was ist denn das? Hier ist alles stumm. Warum reden die Bäume nicht? Sie verbergen etwas vor mir. Hinter mir reden die Bäume wieder und vor mir reden sie. Die Bäume mögen mich nicht. Sie stehen unheimlich still und stumm – sie mögen den Menschen nicht.‹
Alle Dinge in der neuen Heimat, eigentlich der alten, verblieben stumm. Sie redeten nicht mit Tiln Rom. Das war ihm unheimlich, es war ihm neu und es war faszinierend zugleich, nicht wahr? Im Urwald war es anders gewesen. Der Urwald ist ja etwas so Lebendiges! Noch.
Deshalb und aus diesem guten Grund hatte er sich einen Walkman gekauft, ein Gerät zum Musikhören in freier Natur, zur Beschallung der Ohren, vielmehr des Geistes, der nicht nichts hören kann (es einfach nicht kann). Seine Hoffnung war gewesen – dass er das Schweigen besser ertragen könne. Es war anders gekommen: Die Dinge um ihn herum wurden nicht lebendiger, sondern die Musik wurde nun gleichfalls stumm, sie wurde leer, sie sprach ihn nicht mehr an, sie erzählte ihm nur von menschlichen Belangen. Tiln Rom wollte mehr, er wollte tiefer gehen, nicht in sich hinein, sondern ganz aus sich heraus.
Warum schwiegen die Dinge? Wussten sie etwas? Sie wussten etwas Verborgenes, vermutete Tiln Rom. Die Geräusche, die sie von sich gaben, zum Beispiel der Wind, dieses Heulen oder Pfeifen, lenkten ab von ihrem Schweigen. Das Rauschen in den Bäumen war der Wind, sonst nichts, ein mechanisches Geräusch, es waren nicht die Blätter und es waren nicht die Bäume. Der Regen, der in die Bäume niederging, war nur der Regen. Die Bäume hatten sich zum Schweigen verpflichtet. Das Wasser in den Bächen war so unverständlich geworden wie die Musik, die er hörte. Das Wasser in den geraden Bächen rann still hinabwärts, irgendwohin, es verlor sich, es war lautlos und verstummt.
Die Menschen waren so zahlreich überall, dachte sich Tiln Rom in diesen neuen Stimmungen, sie machten viel Lärm und hatten im Lärm vergessen, wie unheimlich still alles geworden war. Hätten sie es gehört, was nicht zu hören war, sie hätten aufgehört Lärm zu machen inmitten der Stille, die alles aufsaugte, in der die Geräusche verschwanden ohne Reflexion, in der die Geräusche abflossen wie Wasser im Spülbecken. Die Landschaft war ganz umgestülpt, war teilnahmslos geworden. Wohlgemerkt, ich schreibe das heute, wo es noch niemand hört und nur wenige es wahrnehmen; ich schreibe es, damit man später Zeugnis hat, eines Zeitzeugen Zeugnis, der schon früh erkannt hatte, worauf es alles hinausläuft.
›Nirgends mehr‹, meinte Tiln Rom, ›lässt sich die Natur wirklich berühren.‹ Sie ließ sich anfassen, aber sie sagte NEIN. Sie sagte nicht einmal NEIN, sie sagte nichts. Die Berührung ließ sie sich gefallen, sie war ihr weder zuwider noch zeigte sie, dass sie ihr gefiel. Er trat auf die Nadeln im Tannenwald, und die Berührung war aseptisch.
›Spazierengehen‹, dachte er sich, ›ist eine Gedanke. Man geht spazieren und denkt sich selbst. Man denkt sich zum Beispiel: Ich gehe jetzt zu Pamela Banz. Es ist regnerisch. Die Straßen sind leer. Meine Füße treten regelmäßig auf, mein Kopf geht mit, ich lasse mir Zeit zum Denken. Ich sehe Autos, Bäume, Straßenschilder. Ich gehe in einer vom Menschen gestalteten Landschaft, sie besteht aus verschachtelten Räumen. Überall sind Räume in Räumen. Das Haus ist ein Raum. Im Haus sind wieder Räume, und in diesen Räumen sind Schränke und Schachteln und Dosen und Döschen, zum Auffüllen und Anfüllen und Verstauen und Verstecken und Ordnen.‹
Die menschliche Landschaft hatte keine echten Geräusche. Alles, was es draußen gab, gab es auch drinnen. Draußen in den leeren Räumen fuhren die Autos. Sie fuhren auch drinnen, in den Fernsehgeräten, sogar in den Zeitschriften fuhren sie. Draußen redeten viele Menschen, wo es etwas zum Einkaufen gab und drinnen redeten sie im Radio.
Er ging spazieren. Das war wie guten Wein aus der Flasche trinken. Da hat der Wein keinen Geruch und eine falsche Farbe. Er hat nur Geschmack. Vielmehr war es genau umgekehrt: Die Landschaft hatte viele Farben, aber ihr Geschmack war abhanden gekommen. Tiln Rom kam sich vor, als wäre er für die Blumen in den hübschen Gärten und an den Fensterbrettern gar nicht anwesend. Er ging einfach herum wie ein Käfer auf einer Wand, hinauf hinab, machte plötzlich kehrt und drehte wieder um.
Tief unter seinem Hut zeichnete sich allmählich in Tiln Roms Gesicht ein Schmunzeln ab. Manch ein Schreiber hätte wohl geschrieben, ›ein Schmunzeln grub sich in seine Falten ein‹, aber Tiln Rom hatte ein wenig faltiges Gesicht! Die Bilder in der Wohnung von Bömmel Banz, die vielen Nebel hinter den Gläsern waren vielleicht etwas Ähnliches, rührten von einem ähnlichen Natur- und Welterlebnis her, wie es Tiln Rom erlebte. Er hatte oft Nebel gesehen, im Urwald, jeden Tag in der Frühe stieg der Nebel auf. Doch der Nebel in den Bildern war etwas anderes, der blieb dauerhaft stehen und war voll verschwommener Bedeutung.
Tiln Roms Füße strollten über das Pflaster der fortlaufenden Straße. Er war bei den Banzens angekommen. Seine Füße traten weich über das weiche Wasser, das wie ein gläserner Film über dem Pflaster glänzte, einer aus weichem Glas. Seine Füße gingen schaumig durch den Nebel im Vorgarten, vorbei an allen Zwergen, die an allen besonderen Ecken und Enden unverdrossen zu Werke waren und zusahen, dass die Welt gleichen Schrittes weiterging. Sie putzten die Schilder ohne eine Miene zu ziehen, sie schoben ihre Schubkarren vor sich her, ohne eine Geste zu schwingen. Abends watschelten sie zu ihren Gartenzwergengattinnen und werkelten auch dort und planten in alle Zukunft hinein, bis die Lichter über dem emsigen Volke ausgehen würden.
Nur in den Häusern ist alles echt || @ Bernhard Karlstetter