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Langsam habe ich mich bei Katharina in der Wohnung eingenistet. Sie lebt zusammen mit ihrer Freundin Uta in einer geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung in Haidhausen, im Parterre. Ich brauche selbst am Tage künstliches Licht, es ist immer dunkel, aber ich bin lieber dort. Bei mir in der Tulbeckstraße ist es kalt, die Toilettenspülung friert oft ein und es gibt Scherereien mit der Vermieterin. Sie ließ vor einigen Tagen die Wohnung aufbrechen, als ich über das Wochenende weg war. Der Abfluss in meiner kleinen Küche war zugefroren, der Wasserhahn tropfte weiter bis die Zimmerdecke des unter mir wohnenden Ehepaares, die Lederers, das mich oft misstrauisch aus dem Türspion beobachtete, feucht geworden war. Ein willkommener Anlass sich bei der alten Dame, Frau Weinbierl, der Vermieterin, die gegenüber wohnt, über die ›Kommunisten-Druckerei‹, zu beschweren. Ich stellte mir Herrn Lederer vor, den alten Griesgram, in seinem ausgeleierten Unterhemd, an den Zehennägel feilend, eine Flasche Bier neben seinem Plüschsessel im Wohnzimmer, wie er sich über alle Fremden mümmelnd beschwerte. Ein gutes altes Klischee. Seine Frau sah ich nur mit Lockenwicklern im Treppenhaus putzen, selten genug, Gott sei Dank. Ich trat auf die frisch gewischten Treppen. Sie sah mich böse an und ließ ihre Oberlippe herunterhängen. Alle zwei Tage besuchte ihre Tochter sie. Sie hatte ihr unnatürlich weißblond gefärbtes Haar hoch aufgesteckt wie einen Turm. Sie trug den Müll raus, war still und leise, ein Inbegriff der devoten Hausfrau. Jedenfalls in meiner Vorstellung.

Überhaupt war meine Vorstellung in dem Haus ins Grenzenlose gewachsen. Ich sah durch die Wände meiner Mitbewohner, sah die Möbel, auf die das Fernsehen niederrieselte, hörte ihre Gespräche, roch und aß ihr Essen, teilte ihre Streitereien. Frau Weinbierl, meine Vermieterin, hatte mir die Wohnung übergeben unter der Bedingung, dass ich alle Möbel beließe, wo sie waren. Also war es kein Wunder, dass ich in das Eigenleben des Hauses einwuchs. Manchmal kamen mir alle Möbel vor wie aus Frottee.

Ich schlief zuerst bis das Kreuzweh nicht mehr auszuhalten war in dem Bett, vor dem ein Vorhang hing, durchsichtig französisch. Es war so weich wie Pudding. Täglich fiel Stroh aus der Polsterung unters Bett. Es roch nach Motten und billigem Parfüm. Ich verfrachtete es in den Speicher nebenan und besorgte mir eine Matratze. Natürlich durfte niemand sehen, was ich da hereinschleppte. Offenen Widerstand wollte ich nicht gleich zeigen, wollte ich überhaupt nicht zeigen. Vielleicht war das mein Fehler, denn ich fühlte mich jetzt beobachtet von den Hausbewohnern und von Frau Weinbierl, die mich öfters abfing und irgendeinen Vorwand suchte, einmal in die Wohnung sehen zu können. »Alles in Ordnung«, sagte ich freundlich und schützte Eile vor, ich müsse in die Arbeit. Sie hinkte voll stillen Leides zum Haus herüber, wenn ich wegging, fragte mich irgendetwas, oder forderte mich auf, ja den Boiler im Bad zu entkalken. »Der muss entkalkt werden!« »Ihr Bein tut Ihnen weh, das habe ich noch gar nicht bemerkt. Haben Sie denn einen guten Arzt? Geht das schon lange so?« Es ging immer so, wenn sie etwas vorhatte und ihr eigentliches Ziel verstecken wollte. Vom vielen Fernsehen war ihre Haut durchscheinend bleich geworden. Sie schminkte sich, zog den Lidstrich dünn und lang nach, zeigte sich gerne mit zinnoberroten Lippen, ihre kleinen blauen Augen konnten weder lächeln noch weinen, sondern übten neugierige Zurückhaltung. Junge Leute mochte sie eigentlich nicht in ihren Wohnungen, Paare schon gleich gar nicht und Studenten hatte sie schon gehabt. »Sie ficken schamlos die ganze Nacht durch und sind so ordinär und stöhnen.
Das muss man sich anhören!« Sie trat gerade mit dem schüchternen jungen Mann, den ich den Hobbybastler nannte, ins Gericht. Er sah so aus, als würde er tragen, was seine Mutter ihm kaufte. Er war hoffnungslos altmodisch, oder besser, ohne jede Mode gekleidet. Er tat mir aufrichtig leid, aber ich wehrte mich gegen ihn so wie gegen alle anderen im Haus auch.

Als ich mich vorstellte, sagte ich, ich sei Mathematiklehrer. So weit war das ja nicht weg, in Mathematik war ich gut gewesen, oder zumindest im Rechnen. Ich hatte Zivildienst zu machen. Ein Freund riet mir, einige Monate vorher eine eigene Wohnung zu suchen, dann müssten sie meine Wohnung bezahlen, andernfalls käme ich in eine Gemeinschaftsunterkunft in einem Altersheim. Da ich ohne Arbeit war, erzählte ich Frau Weinbierl, ein Lehrer zu sein, sagte nebenbei, ich wäre bereits verbeamtet. Ich machte einen seriösen Eindruck auf sie. Um das zu unterstreichen, weißelte ich die Wände neu. »Eine wirklich saubere Arbeit!«, freute sie sich. Um halb acht Uhr verließ ich täglich das Haus. Jetzt fiel mir auf, dass es angenehm war, mich zum Lehrer erhoben zu haben: Ohne aufzufallen konnte ich nachmittags bereits zu Hause sein.

Ich legte mich aufs Bett und las und schlief. Ich verbrachte die sechs Monate bis zum Beginn des Zivildienstes mit Nichtstun. Die Nachteile der Wohnung spürte ich noch nicht, es war im Sommer.

Mit einem Buch, in das ich wie verliebt war, lief ich durch die Stadt. Es war dick und ich konnte es daher ein zweites Mal lesen. Es stimmte mich höher, mischte mich in tiefe Gespräche und in ›mitmenschliche‹ Beziehungen, von denen ich mich selbst zur Zeit etwas abseits hielt. Mit dem Monatsausweis der städtischen Verkehrssysteme konnte ich stundenlang in der Straßenbahn durch die Stadt fahren. Ich schlug mein Buch auf. Was war ich für ein belesener Fahrgast! Wenn die Straßenbahn sich zu füllen begann in den Stoßzeiten, setzte ich mich in ein Café und überwand meine Müdigkeit – schließlich ging die ganze Stadt wieder nach Hause und man bereitete sich auf das Schlafen vor, da musste auch ich müde werden. Ich spielte den Mitbürger und mied die Bohème, die in der Stadt nistet, obwohl ich gut in sie gepasst hätte. Ich stellte mir vor, dass ich ein Sänger an der Oper wäre, in meinen Kreisen beliebt und gefürchtet wegen meines Könnens und einer also auf einem Fundament ruhenden spitzen Zunge. Ich sagte das so vor mich hin und bemerkte, in welches Bild ich gelangt war: Dann sah ich eine große spitze und gespaltene Schlangenzunge auf einem Betonsockel am Marienplatz. Mein erstes Denkmal.

Bald merkte ich: Früh nach Hause zurückzukehren war nicht so angenehm, wie ich glaubte. Was sollte ich in der kleinen Wohnung tun? Und wie hatte ich mich gefreut, sie gefunden zu haben!

Mit Katharina machte mich ein Albert bekannt. Er war mit Uta befreundet und war regelmäßiger Gast bei ihnen. Sie hatten jeden Donnerstag einen Schafkopf-Abend. Albert lud mich kurzerhand bei ihnen ein. Ich kannte ihn von der Schule her. Wir verloren uns aus den Augen und trafen uns in München wieder, als ich einmal während der Monate in die Uni-Mensa zum Essen ging.

Ich habe ihn nie in schlechter Laune gesehen. Er war an allem interessiert, immer aktiv, erstellte jedem, den er gut kannte, ein Horoskop, hatte Ideen für Geschäfte, war sportlich und außerdem: ein Freund aller Frauen und war sehr beliebt. Während der Schulzeit konnte man ihn oft in einem Café, vor seinen Schulheften sitzend, finden; er kopierte die Eintragungen seiner Freunde. »Was machst du denn da? Du schwänzt und lernst?« Er sagte: »Ich kann mich in der Schule nicht konzentrieren. Der Lehrer stört mich.« Also lernte er im Café. Folgerichtig machte er dann ein Fernstudium.

Ich mochte ihn gern. Ich fand, er war ›geradeaus‹. Gegen ihn war ich verschlungen, ich meine nicht kompliziert oder tief, nein, ich war verschlungen, so wie meine Wege durch die Stadt, verschlungen und ziellos. Ich ließ mich treiben, besonders in der Zeit vor meinem Zivildienst. Albert hielt mich für einen Frauentyp und wollte mir Uta und Katharina vorstellen, ›starke, selbstständige Frauen‹, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Also etwas zum Bewundern, von meiner Sicht aus.

»Wir lassen uns heute Abend bekochen«, sagte Albert. Katharina machte Tortellini und einen Salat mit Egerlingen. Sie war bestimmt keine Frau, die einen Mann bekochen würde. Wie sie stolz ihre selbst gemachten Tortellini präsentierte, gefiel mir gut. Wir saßen in der großen Küche. Die Stunden vergingen. Als mich Katharina fragte, was ich sei, sagte ich, ich sei Künstler. Künstler! Was malte ich denn so? Ich wolle mich mit Aktzeichnen beschäftigen, die menschliche Figur interessiere mich. Insofern war das die Wahrheit, als ich hin und wieder an die Akademie ging und mich an offenen Aktzeichenstunden beteiligte. Was ich erzählte und gegenwärtig zusammenfantasierte, ich fühlte mich darin wohl, und warum sollte ich nicht Künstler sein, oder werden? Und außerdem: War nicht jeder irgendwie ein Künstler? Ich konnte mich leicht selbst überzeugen und hatte schon als Kind viel Unsinn erzählt. Mein Vater nannte mich manchmal nur: ›Der Unsinn‹. Es gab einen Künstler in unserer entfernten Verwandtschaft, Oma erzählte oft davon, als ich Kind war, es war Omas Bruder, mit dem hatte ich mich identifiziert. Nur starb Omas Bruder sehr jung an Tuberkulose, bevor sich seine Talente wirklich entwickeln konnten. Ich fühlte diese Krankheit über mir. Ein leicht empfängliches und empfindliches Kind, das nicht nur jeden Unsinn aufnahm und weiterspann, sondern auch jede Krankheit. Ich war ein kränkelndes Kind, das nicht gerne aß. Meine Mutter machte sich Sorgen. Solange ich wenigstens Appetit auf Butterbrot und Grießbrei hatte und Milch trank, würde es schon gehen.

Die Wahrheit war für mich ein dehnbarer Begriff, weil ich mich mit den verschiedensten Dingen identifizieren konnte, und gab es nicht den Spruch, dass alles zwei Seiten hat und dass man alles einmal anders sehen würde? Meine Fantasie war groß gewesen, sie weichte vieles auf.

Ich war ohne Beruf, also warum sollte ich Katharina nicht sagen, ich sei Künstler, oder wolle es werden? Ich empfand nichts dabei, obwohl mir das Wort Künstler nie gefiel. Künstler waren immer Tote. Ich ging mit Albert auf ein Bier und schon behagte mir mein ›Künstlerdasein‹ nicht mehr.

»Du malst?«, fragte Albert, »das wusste ich gar nicht.«

»Hin und wieder schaue ich an die Akademie und zeichne dort.« Da lachte Albert, denn ich hatte Katharina gesagt, ich würde ein Modell suchen. Ich war mit den Modellen in der Akademie unzufrieden gewesen, oder vielleicht nur mit meiner Zeichnung und Asger, mein Freund, der an der Akademie studierte und dessen flotte Zeichenkunst ich bewunderte, hatte mir Geschichten erzählt vom Maler und dem Modell, die mir erotische Erfahrungen versprachen. Es beschäftigte meine Fantasie seit längerem, genauer: als ich Johanna kennengelernt hatte, in die ich verliebt war. Sie hatte sich einmal auf eine Anzeige gemeldet: Maler sucht Nacktmodell und es dauerte nicht lange, bis sie miteinander schliefen. Mir erzählte Johanna solche Geschichten, aber mich ließ sie nicht an sich heran! Sie erzählte es mir, dass ich sie mir nackt vorstellen musste. Eine angenehme, aber unbefriedigende Vorstellung, so ein Weib wie Johanna vor mir zu sehen.

Katharina hatte zu mir gesagt, sie würde gerne einmal Modell sitzen. Ich sagte, ich würde anrufen. Mein Lebensstil war sehr leicht und ich vergaß es wieder, Johanna beschäftigte mich zu sehr.

[…]

März – April 1992

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Der Türspion || @ Bernhard Karlstetter