Concertino → Das Meer …

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Das Meer rauscht in Obertönen. Das Meer ist eine einzige Improvisation. Auf diesem Monochord spielt nihilistische Anarchie. Und denkst du, die Sonne darüber glaube an irgendetwas? Sie macht Sonnenwinde. Das Meer ist eine Qualle, in deren Hirn es rauscht. Tödlich sind die Elemente, ganz und gar dialektisch: ihnen entspricht die Seele. Sie spricht zu ihnen, sie ist dort Stimme, sie ist die Stimme auf einer Parkbank. Und unser Körper, der verbrennt, der ersäuft. Der Körper hat in unserem Hirn keine Stimme mehr, so verseelt sind wir. Die Seele kann das ewig aufnehmen. Die Seele kennt keinen Tod.

So bin ich im Widerstreit. Ich meine mich, nur mich. Meine Seele geht über den Tod von Freunden hinweg, sagt lakonisch zu jedem Schmerz: Es ist vollbracht. Einer stürzt vom Hochhaus, einer stirbt an Krebs, zwei kommen um bei einem Unfall. Wie die Seele jede verlorene Nähe wegsteckt! Seele und Ewigkeit wurden in einem Topf gekocht – vielleicht ist der Topf überwürzt mit Ewigkeit? Wer erfand den Unsinn Seele? Die Seele ist ein Kaugummi, sie hält alles aus und am Ende der Behandlung stellt sich heraus, dass sie geschmacksecht und wasch-, wisch- und wetterfest ist. Gut! Ich glaube ohnehin an Unsinn. So hätte sie meinen eigenen Tod weggesteckt. Die Seele und die Selbstaufgabe! Noch ein Thema. Daraus wird eine große Käseplatte, die sich unter einer Glasglocke hervorzaubert. Die Seele und die Selbstaufgabe – Selbstaufgabe existiert nicht. Es ist kein Wille zum Sterben da. Die Seele ist Anarchist, sie behauptet, meine behauptet: Nur der Militärstaat fordert den Willen zur Selbstaufgabe, nur das Militär fordert ihn. Jahrtausende wurden wir mit dem Tod erzogen, um für irgendetwas sterben zu dürfen. Das Leben hat seinen Sinn im Leben, nicht auf ein Ziel hin – das muss erst anerzogen werden, um es dann zu entziehen – und schon hast du die ›Sinnkrise‹ und wirst herausgefischt mit einem Haken, der den Sinn hat, dich nach oben zu ziehen, in luftige Höhen, wo du erstickst, wenn du nicht fortwährend weiter künstlich beatmet wirst.

Konsumieren heißt sterben. Mit jedem Konsumgut glauben wir, uns vom Tod freikaufen zu können; jedes Produkt verspricht uns Rettung, und Linderung das Schild: ›Hier wurde reduziert!‹ Der Tod hat ein großes Echo an meine Ohren gebracht. Ich bin zu ihm hin erzogen worden. Ich will ihm helfen, dass er meine Knochen heimbringt. Das Sterben bin ich gewohnt, immer wieder will ich sterben. Von Tag zu Tag. Wenn ich schlafe, bin ich tot. Wenn ich auf der Parkbank schlafe, bin ich tot. Jede Nacht ist ein Trommelschlag. Allmählich spüre ich den Rhythmus Lebensterbenlebensterbenleben. Mein Leben ist die lange Saite eines Monochords, in einer Schwingung Tausende Male unterteilt. Und mit diesen Klängen lenke ich mich ab. Ich betäube mich mit Harmonie. Ich bin bereit, zu glauben, mein Leben schwinge auf einer langen Saite dahin. Das kommt, je weiter ich mich auf Seele einlasse. In der Stille liegt große Zukunft. Sie hat es leicht, sich mit allem zu verbrüdern und sagt dir ins Gesicht: ›Hattest du es als Saurier nicht schlechter? Warst du nicht in deiner fleischlichen Größe gefangen? Dein Geist bildete zwei Reihen Zähne und riss den andern ein Stück heraus!‹ Die Seele besteht auf dem Fortschritt. Was du vorbringst, sie sagt: Damals lebtest du enger. Red nicht von den guten alten Zeiten, von den Griechen, von den Römern, von den Ägyptern oder von den Zeiten des Matriarchats: Ein Leben in der Beschränkung von Ahnenglauben ist schrecklich.

Ich wollte mich fragen, ob meine Reise ein Ablenkung war, von Wichtigerem, eine Unterhaltung, nur eine Zerstreuung, meine eigene Unterhaltungsshow?


Puerto Natales lag unter einem Regenbogen, schlief die Auflösung der Welt in zusammenhanglose Orte. Auf den Blechdächern prasselte es. Der Wind blies durch die Fugen der zusammengenagelten Häuser. Wir saßen im Wohnzimmer einer Gastfamilie und zählten die Länder, die der Kitsch an den Wänden vereinte: Der Königssee lag im Herbst. Chinese und Spanier gingen in ihren Trachten über eine Brücke. Ein Seefahrer rauchte eine Pfeife. Ein Japaner ritt auf einem Lama. Das hatte die Vermieterin selbst gemalt. Sie lebte mit ihrem Sohn Moncho alleine und nahm Touristen auf, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihr 21-jähriger Sohn war Epileptiker, konnte keine geregelte Arbeit aufnehmen, und war ihre Haushaltshilfe. Die Señora war über 50, stets heiter gestimmt, oft sprach sie von ihren Ängsten, die sie um ihren Sohn hatte: Was würde werden nach ihrem Tod? Moncho trommelte in seinem Zimmer auf einer Blechtrommel einige Takte und war dann auf der Flöte zu hören mit Sequenzen eines Weihnachtsliedes. Dann kam er auf Pantoffeln durch den Linoleumgang gerutscht, lehnte sich in das Sofa vor dem Wohnzimmerfenster und fragte Mika, ob ihm seine neue Sonnenbrille gut stehe.

Er zog sie aus seiner Jackentasche und stellte sich in Position, denn es war eine mit Goldrand und Spiegelgläsern. So servierte er den Pulverkaffee. Bereits in der Frühe setzte er sie auf und begann uns von den Mädchen zu berichten, die ihm gut gefielen und vom kommenden Samstag, an dem er wieder viel tanzen werde. Die Señora schmunzelte: Am Wochenende seien viele Argentinier aus El Turbio in Puerto Natales, weil die chilenischen Mädchen so schön seien. Das war ihre Jugend. Die Argentinier kommen wegen der Mädchen nach Chile, und die Chilenen gehen der Arbeit wegen nach Argentinien. Man lebt nicht vom Beruf, sondern von kleinen Geschäften.

Puerto Natales, eingekreist von Wind und Leere ringsum. Keine Straße in die Nordprovinzen Chiles, 1.000 Kilometer abgelegen im Süden des Kontinents. Einmal in der Woche war Militärparade auf dem Hauptplatz. Die Glocken der Holzkirche läuteten, eine kleine Gemeinde sang mit einer Schallplatte über Lautsprecher einen himmlischen Chor über die Stadt, als von der Militärschule Blechmusik zu hören war. Die chilenische Fahne am Altar wurde steif gezogen und draußen begann der heilige Akt der Fahnenanbetung. Die in der Sonne strahlenden Soldaten und uniformierten Kinder sangen zum Vaterland. Mit weißen Handschuhen schritt andächtig eine schmucke, flaschengrüne Uniform auf die Fahnenstangen zu und zog langsam die Fahne hoch, wickelte bedächtig das weiße Seil um zwei Haken am Mast. Mika und ich saßen auf einer Parkbank. Neben uns standen die Parkgärtner, die ihre Scheren zum Stützen der Hecken ins Gras gelegt hatten. Das war eine festliche Stunde, die überging in einen Kinderfahrradwettbewerb für die wenigen, die Fahrräder hatten. Moncho winkte ihnen im Vor­übergehen zu. Die Sonne spiegelte sich in seinen Gläsern.


Wir saßen in einem Straßencafé und aßen Hamburger. Radio, Coca Cola, Nescafé. Von Zeit zu Zeit kamen Gäste ins Lokal, mal kletterte ein Wolkenschatten über das gelbe Haus auf der anderen Seite der Kiesstraße, oder ein gelbes Taxi fuhr vorüber.

Ich träumte von zu Hause. Ich erinnerte mich daran, als ich das Elternhaus verließ. Meine Mutter stand winkend in der Straße, Vater in der Türangel oben auf der Treppe, und ich ging durch den Schnee, sah zurück. Mutter stand vor meinen leeren Fußstapfen. Als Vater wieder ins Haus zurückging, wartete sie bis ich um die Häuserecke gebogen war: Ihr Sohn war so stark wie ein Mann und sah sich auf dem Weg einmal kurz um, sie stand wie ein Mädchen vor dem zum Puppenhaus gewordenen Heim, umgeben von Wänden und Dingen, mit denen ihr Alltag in Leben umgeackert wurde; Dinge, die ein unverständlicher Gott um sie aufgerichtet hatte – das Leben, das aus ihr gekommen war, hinterließ nicht einmal einen letzten tiefen Blick in ihre Augen. Später, am Amazonas, träumte ich von ihr, einige Wochen vor ihrem Tod. »Wenn du nicht bald kommst«, sagte sie, »triffst du mich nicht lebend wieder.« Ich sah sie. Sie lebe ab jetzt zeitlos, hatte sie ihrem Mann gesagt, etwa zur selben Zeit. Als sie kurz darauf starb, war ich an ihrem Bett. Ich hörte diesen letzten Atem, der aus dem zusammenfallenden Brustkorb gedrückt wird – dieser Hauchen zieht an die Decke hinauf und durch die Wand in den Äther hinaus.

Ich träume manches Mal, etwas werde passieren, zu Hause – man fährt weg und glaubt zu Beginn immerzu, man habe etwas vergessen. Dann räumt man innerlich auf. Ich habe oft und oft ein letztes Mal aufgeräumt; den eigenen Leichnam fortgeschafft, der in all den Dingen liegt, die mit der Zeit zu viel geworden sind.

Punta Arenas ist die Hauptstadt der Provinz Magallanes in der 90 % aller Einwohner leben. Auf 110.000 Quadratkilometer 110.000 Menschen. Ein Museum zeugt von dem Reichtum, den ein Jugoslawe Anfang des Jahrhundert sammelte, ein anderes von der Vernichtung der Ureinwohner durch Errichtung von zäunebewehrtem Besitztum. Verwirrende Geschichtslosigkeit der neueren Zeit und 20.000 Jahre Nomadenleben und Anpassung an die widrige Natur in drei, vier Räumen. Dort, im Salesianer Museum, trafen wir ein deutsches Paar, das bereits ein Jahr unterwegs war. Am Abend in einer kleinen Kneipe beim Ostra-Essen erfuhren wir die Fakten, die ihre Leben zusammentrugen. Karin war technische Zeichnerin gewesen, und Bertold kam vom Militär, für das er sich verpflichtet hatte. Ein Beruf stellt kein Leben dar, meinte Bertold, »deshalb nahmen wir unsere Chance wahr und fuhren weg«. Die Bedienung brachte eine Muschelsuppe und stellte Bier und Cola auf den Tisch. Wir hatten Mühe, nicht in das TV-Programm zu starren, das unbeeindruckt über die Vorzüge des chilenischen Hamburgers konferierte, unterbrochen von Werbespots der lokalen Großmärkte, unbezahlbaren Lebensversicherungen und der Trockenmilchsonderpackung.

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Das Meer … || @ Bernhard Karlstetter