Concertino → Die Fingerspitzen des Schlafs

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Sechsunddreißig Leben bin ich alt: Ich erwache zum letzten Male, um abschließend vom Schlafen zu berichten – nach Millionen Jahren ein Nichts gegen die Welt der Tatsachen und Historien, die vier Milliarden Menschen mit ihren Leibern zu Wirklichkeit aufzustützen versuchen.

Das letzte Leben ist ein Schlaf, ein Traum, ein Auftrag, den du dir selbst gegeben hast, um den berühmten, ungültigen Satz sagen zu dürfen: Es ist vollbracht. Am Ende gibst du dich zufrieden mit einem Satz, den andere schon ausgespuckt haben.

Du lebst noch einmal, warst dumm genug, noch einmal so eitel gewesen zu sein. Es macht Spaß diesmal, da ich weiß, es ist das letzte Mal. Alles um eine Stellung zu beziehen an der Front der Wortemacher, als Testament, als Vermächtnis für grübelnde Spekulanten. Die Frage erhebt sich zum letztgültigen, endlosen Spaß: Warum lebst du?

Es gibt keine Geheimnisse im Universum, keine Rätsel, keine Mysterien. Alles liegt offen. Es gibt keine Tiefe in der Seele, alles ist Oberfläche. Die Seele ist ein rosa Bettüberzug, auf dem unendliche poetische Beugungen das Laster erneuern. Was sollte tiefer sein als das Laster?

Du kannst an keinen Anfang zurückgehen. Geburt und Sterben des Träumenden vollziehen sich auf andere Weise als über das bloße Altern und Trägewerden eines Körpers. Sterben und Gebären sind ununterbrochene Vorgänge, die in allem mitwandeln. Als Träumender schließst du die Augen und hörst nicht auf zu schauen. Du horchst den Ohren zu und spürst die Welt, du fühlst ihre Haut und hörst ihren Körper atmen. Du fühlst wie Stein, wie Wasser, wie Raum, wie Straße, selbst wie seine Freunde. Du lebst im Drinnen und im Draußen zugleich, und Tag und Nacht unterscheiden sich nicht durch Licht und Dunkelheit. Alles geschieht zu Hause. Die Grenzen eines Lebens engen keine Mauern und keine Berge ein. Du hast sein Ich in den Dingen, den Tieren und den Freunden und Feinden. Du wohnst in zwei Welten und bist in beiden ich.

Die Traumlosen horchen in sich hinein, sie erschrecken, denn sie finden eine fremde Stimme. Wer sein Ich sucht, verliert seine Stimme; wer in sich hineinsieht, glaubt an zwei Seelen in seiner Brust. Die Traumlosen fühlen und leben als Statisten, ihrer Gefühlswelt überlassen und verloren.

In der Welt des Traumes sind nur Namen, ist nur Bedeutung. Bereits die leiseste Berührung mit den Fingerspitzen des Traumes kann auslösen, dass einer sich spaltet und Tausende Stimmen und Bedeutungen ihn untergehen lassen.

Man redet von Labyrinthen wie vom Geheimnis des Lebens. Steckt nicht in einem Labyrinth Minotauros, der kraftvolle Stier, dem geopfert wird des Lebens ungebändigter Trieb? Durchschaubare Gedankenspiele, die nichts als Lebensangst widerspiegeln. Es war der Spiegel, die Selbstbeobachtung, die den Menschen ein einziges Mal weiterbrachte. Darauf blieb er stehen aus Angst vor seinem eigenen Bild und erhöhte sich in Kulturen und Gottheiten – durchschaubare Selbstüberlistungen. Es ist kein Wunder, dass das Wort Verfremdung Eingang in unser Vokabular gefunden hat als ein verfremdetes Wort.

Es geht mich nichts an. Ich will nicht gleichfalls wehleidig werden und Geschichten erfinden, damit ich einmal Teil an irgendeinem schwindenden Leben hätte.

Das Labyrinth ist ein Zufluchtsort. Sein vermeintliches Geheimnis ist das Mittel, mit dem sich Traumlose in die Irre leiten lassen. Überall sind Möglichkeiten zum Einstieg in ein Labyrinth, das Auge dafür muss geöffnet werden. Überall sind schwarze Löcher zu finden in der Welt. Du musst lernen, fliehen zu können.

Eines Tages ging ich endgültig aus meinem Elternhaus weg. Eine Hexe im Keller öffnete mir eine Türe, wo andere nur eine Wand sehen konnten, und flog mit mir über einen weiten Ozean. Die Hexe war meine Kindheit.

Meine Eltern, die mich in den Keller sperrten, im Glauben, es sei ihre eigene Weise der Folter, eine zum Leben lehrhafte Erziehung gewesen, haben weit entfernt von einer bewussten Tat nur gehandelt, wie ich es brauchte, um mir das letzte Mal die Rückkehr dorthin wieder zu erleichtern, woher ich komme. Wer also spricht von der Unschuld des Gebärens? Gewäsch.

Weit weg vom Haus meiner Eltern lebte ich in großen, leeren Räumen, in dunklen Gewölben, die vom Geräusch der Motoren, die die Welt antreiben, durchtränkt sind wie Weinkeller von der Feuchtigkeit rauschbesessener Geilheit, flog durch Gänge verzaubert von chaotischer Wirrnis. Zum Spielen ging ich Hunderte Stockwerke hoch in ein riesiges weißes Gebäude, das eine Schule und ein Krankenhaus zugleich war.

Während meine Mitschüler weite Wege zu einem Zuhause zurücklegten, entschlüpfte ich durch Heizungsschächte in mein Reich. Während meine Mitschüler das Wissen mitgeteilt bekamen, mit den Beinen sich fortbewegen zu können, flog ich unsichtbar, wenn mich die Laune trieb, im Gebäude umher. Wie musste ich lachen, als ich hörte, der Mensch habe inzwischen nach Tausenden von Jahren seinen größten Traum zur Erfüllung gebracht: er könne fliegen, und sah dann, dass er sich einer Maschine bediente, die überdies tonnenschwer war. Der Mensch hat den Mond betreten, ein Jahrtausendereignis, dessen Größe schneller verfällt als eine Sandburg, wenn die Zeit darauf pinkelt.

Blicke in die Weite genieße ich, denn sie sind Erinnerung. Ich sah stundenlang zum Fenster im obersten Stockwerk hinaus, und nahm in mich auf, bis ich begriff, einmal all das gewesen zu sein, was vor mir lag, ja immer noch alles das zu sein.

Am Fensterbrett spürte ich das einzige Zutrauen, das ich hatte: eines in die Ferne.

Die meisten plumpsen in einem nackten Kreißsaal in ihr Leben hinein wie in einen Sack, beginnen zu schreien aus der Gewissheit heraus, dass es dieses eine einzige und öde Mal sein wird, dass sie etwas beginnen, bevor sie in ihrem Trauma befangen die Wiederholungen antreten, die sie nichts als leere, abwaschbare Wände und elektrisches Licht erkennen lassen. Es ist kein Wunder, dass nach solchen Geburten in manchem Sensiblen mystische Regungen erwachen und Fragen nach dem Sinn des Lebens ihn beschäftigen, bis er glücklich zum Rätsel und Symbol gelangt, um wenigstens irgendwo eingehen zu können.

In der heilen Welt des Traumes sterben die Toten aufs Neue und der Schmerz führt seine eigenen Leben weiter. Auch der Schrecken ist ausdauernd im Traumleben. Es ist anders hier als draußen, du sprichst in Zeichen und kämpfst mit der Sprache. Du kannst träumen von Zurückgezogenheit an einem idyllischen Ort, du kannst dich zurückziehen, ein Haus gefunden haben und dort dich selbst leben wie die Pflanzen, die du um dich stellt: als Bildnis deines Wunsches. Du wirst feststellen, dass die Ruhe rundum, je mehr du beobachtest und je länger du mit deinen Pflanzen lebt, nur der eigenen Empfindungslosigkeit und Abgestumpftheit entsprechen: Blätter wuchern, breiten sich in den Raum aus und fallen in sich wieder zusammen, trinken das Wasser, das du auf sie gießt mit einer Unrast in sich hinein und wachsen an das Licht, wie du sie auch drehst, als wohnte in ihnen eine Angst vor der Schwärze ihrer unschuldigen Seelen. Es ist in den Tropen dasselbe Prinzip wie in der Wüste, unter Wasser wie in den Sternen. Kehrst du zu dir zurück, spürst du wie alles reflektiert. Das Gespräch mit der Natur wird zu einer Falle, Berge und Meere reden von unvereinbaren Dingen, die Stimme des Waldes spricht unverständlich langsam, Tiere wollen einander zerfleischen, Steine sind verbitterte Seelen. Das Leben ist eitel und gefällt nur sich selbst. Das Alter vererbt der Jugend seine Versäumnisse.

Es gibt keine Ruhe in einer geöffneten Welt.

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Die Fingerspitzen des Schlafs || @ Bernhard Karlstetter