Concertino → Hütte, Windrad, Brunnen

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Über dem Herzen Patagoniens die vor Tausenden von Jahren geleerte, vom Gletscher geschleifte Ebene, Hunderte von Salzpfützenseen verdunsteten in Wind und Sonne, Autospuren der Estancieros überflogen einander in alle Richtungen geradeaus. Ein kariertes Straßennetz, 4 mal 4 Straßen an der geschwungenen Atlantikküste, tiefblauer Ozean, Mündung eines wasserlosen Flusses, dunkelbraunes sandiges Land. Um die Häuser mit rotem Dach wuchsen Pappeln, ein Windrad und Brunnen. Wer hierherkam, verbrauchte wenige Worte.

Die kleine Militärmaschine, in der ich flog, kletterte in die Luft wie auf krachenden Treppen. Ein Offizier servierte Café und Coca Cola. Der Blick nach draußen erfasste die Anden hinter dem blaugrünen Lago Argentino – der hing wie eine große Traube ins Bild.

Im Flugzeug nach Río Gallegos war mir, als würde ich die Reise in meine Seele antreten. Davon war ich überzeugt bei den Blicken aus dem Fenster und der tristen Landung in Trelew, wo wir in den kleinen, engen Zwischenraum von Boden und tiefen Wolken hineinrasten. Eine trübe graue Metallwand über unseren Köpfen drückte herab auf die platte Kartonerde. Wind entstand unter dem ungeheuren Druck, den die Metallwand erzeugte, die sich ankleben wollte und jeden Zwischenraum hinauspresste. Ein kurzer Blick in eine diesige Alptraumwelt, im Innenraum von zwei Informationen 0 und 1, ein in einen Lügendetektor gespanntes Bit, ein sich zusammenpressender Zigarettenrauch in den engen Wegen meiner Lunge. Trotzdem fühlte ich mich gehoben. Ich brauchte nicht nach innen zu denken. Es war etwas wirklich von dem, was meine Schwere war. Immer habe ich mir die Leere gewünscht, die Einfachheit.
Ich bin voll mit Dingen, mit Bildern, mit Meinungen, ich bin ein Schnellfresser. Und diese Ewigkeit war nur ein weiteres Bild, ein Gegenbild, das sich nie änderte, eines, das entrümpelt ist von hineingestopften Dingen, von dem unsinnigen Wissen, das ich angesammelt, von Zusammenhängen, in denen ich nicht leben konnte: Meine Konfusion gipfelte in der täglichen Wettervorhersage, in der sich Zusammenhänge aus aller Welt zu einem schlichten Hoch oder Tief bekannten. Auf dem Hoch lagen 1.001 Nachrichten aus Pakistan, aus Sri Lanka, über den Kiwi-Anbau in Neuseeland, über die Dürre in der Antarktis, lagen Sperrverträge, Lobbyistenparlamente, Binnenmarktkontrollen, Mitleidshausse, Ding geht nicht, Dang begrüßt Vorstoß gegen die Abtreibung, Berliner Genossen in seltener Harmonie, erste Chemikalienlieferung in den Iran verhindert, zweite erlaubt, nicht erwähnte Hungerkatastrophe in Mosambik. Hinter allem steckte ein Impressum, das ich nie fand. Ich gab keine Antwort darauf. Ich kaufte mir ein Flugticket und flog über Moskau nach Buenos Aires. Ich entdeckte nur mich. Ich bin kein Zettelkasten. So fand ich Ruhe in meinem Patagonien drinnen: Alles ist vorübergehend, von der Pinnwand flogen alle Notizen. Diese Pinnwand liegt irgendwo im Nirgendwo.

Ich war so sehr im Kreislauf der Produktion, dass es für mich nichts außer Joghurt und Joghurtbecher gab; das Joghurt verschlinge ich, den Becher halte ich in Händen zum Meditieren. So entstand Patagonien in mir. Ein auf seine weiche Art und Weise unbefriedigend lassender Plastikbecher. Mehr als eine lebendige Stadt kann ich mir in der Landschaft einen herumflatternden, verknautschten Eimer vorstellen, den ein Computerfreak aus seiner Kunstlandschaft nicht mehr herausbringt. Wenn er seinen PC einschaltet, läuft über seinen Bildschirm dieser weiße Eimer. Ich nahm ihn auf und erkannte meine Seele, meine von Joghurt geleerte Seelenhülle.

Ich erkannte, dass ich selbst der Kommentar bin; bin kaum mehr als ein Ko-Kommentator meiner Seelen. Ich war das Wort, die Landschaft, die sich am Flugzeugfenster realisierte, war der Kommentar dazu, das Materie gewordene Wort. Gott kannte dieselbe Leere in sich. Gott sah auf seinem Bildschirm denselben weißen Eimer hin-und herflirren. Das stimmte ihn melancholisch. Und hier auf seiner Hirnrinde hatte er ihr den Platz gegeben. Hier staute sich seine Untätigkeit, seine Unschlüssigkeit, was mit der Schöpfung zu beschließen sei, die wie alles an ihm, ewig ist; hier staute sich sein Wissen, dass seine Geschäftigkeit auf den anderen Hirnflecken ein Leerlauf war, ein Kräfteverschleiß. Hierher verbannte er seine Gedanken, die schon 10.000 Äonen weiter waren in der Planung.

Wie auch immer es war, es war mächtig hier. Die Ebenen waren die geleerten Kaufhausregale des Universums. Ich trampte mit einigen Blutkörperchen, die im nächsten Ort einer Arbeit nachgingen, durchs Gotteshirn. Es erging mir, wie es einem Burgromantiker ergehen würde, müsste er im Mittelalter in seinen Mauern an Rheuma eingehen. Das ist der Wirt der Traurigkeit.

Traurigkeit? Ich kam, um Bilder zu tanken, mein in Deutschland gebliebenes Wildwasserreservoir war durch Überdüngung umgekippt. Lediglich mit Bildern aus Reisejournalen infiziert und schon wieder überdüngt. Die Wirklichkeit einzupassen in gekaufte Bilder, war mein Konsumauftrag. Bildersucht sucht Bilder. Ich habe meine eigene Linse vor mein Auge gesetzt. Ewige Themen wachsen mir wie Haare aus der Kopfhaut, ein kleiner Schuppenkulturboden wächst mit.

Manche schwärmen von der Wüste, wenn sie aus der Sahara zurückkommen, preisen nicht den Sand, auf dem sie sich die Füße verbrannt hatten, sondern das tagelange Alleinsein mit ihren Worten, die keinen Widersacher in der Primitivität der Formen fanden. Kaum zu glauben, dachte ich mir, dass es solche Orte auf der Welt gibt – sie sind in der Überzahl! Alle Ozeane zusammen haben achtundsiebzigtrilliardendreihundertsechstausendundzweiundzwanzig solcher Orte, Menschenorte, die nur als Seele zu bevölkern sind. Die Wüste gibt Visionen, wenn sie eine Sandwüste ist, ihre Sonnenhelligkeit fanatisiert und reinigt. Es besteht die Gefahr, dass du süchtig wirst nach nur einem Stoff, nach gelbem sauberem Sand; die Schmutzgrenze zieht sich enger. Die Wüste ist Geist und reinigt radikal. Ein Sandwüstenprophet verwandelt alles in Sand. Er bläst in seine Worte die Wahrheit und die Reinheit, weil er sie im Sand sah. Alles, wie es ist, ist zu viel, ist undurchdringlich geworden, hat zu viele dunkle Ecken – der Sand fließt, er lebt in der ewigen Wahrheit, das ist ihm eine Gewissheit. Die Reinheit wird ihm zur Pest, welche die Erde zu säubern hat vom Schmutz und Unrat seiner Gedanken über sein angstvolles Leben. Die Wüstensonne gibt Kraft zum Bekehren. Eine Steinwüste dagegen hat keine erleuchtende Vision und mag noch so viel Sonne scheinen. Gedanken, die einst am Himmel waren, liegen wie Klumpen herum, sind unbetretbares Terrain geworden. Ab und an findest du einen Drahtverhau und der erinnert an Verdun und andere Felder des Schlachtens. Jedes Land hat seine Gedenkstätten für namenlose Helden. Die Steinwüsten, die ich sah, sind als das wirkliche Negative in meinem Kopf geblieben.

Die patagonische Pampa ist jenseits von allem. Sie ist eine kultivierbare Wüste, war einst dicker Urwald, und Leben sündigte darin. Patagonien hat Harmagedon, die große Entscheidungsschlacht der Christen gegen die Welt des Bösen, hinter sich. Gut und Böse haben ausgefochten, ein Land hinterlassen, das keine Vision mehr hat, sondern die Vision selbst ist, die entkleidete, nackte Vision. Gedanken, die drüberfliegen, denken nichts mehr, sind Wind. Kein Prophet kommt hierher; hier wird er sein am Ende seiner Visionen. Zuvor muss er kämpfen, in die Städte ziehen und irgendein Banner schwingen, den Himmel prophezeien und die Hölle wünschen, den Endkampf, das Endziel, das reine Blut, den reinen Geist; er muss die Angst vor Rassen- und Ideenvermischung schüren, muss den Ausländer immer und überall predigen, rassenunbedenkliche Einwanderungsgesetze verkünden und juristisch durchsetzen; er muss gegen alle prozessieren, die Sonntagvormittag den Gehsteig nicht gesäubert haben. Dann geht er ein in den Himmel Patagonien und er wird sich nicht zurechtfinden, denn noch im Jenseits braucht er irgendeine Hoffnung auf Endgültigkeit. Schließlich gibt er sich der Depression hin, die auf ihn wartete, vor der er geflüchtet ist ins Jenseits seiner Ideen.

Es ist genügend Sonne in Patagonien, aber nicht der Irrtum, dass du selbst eine bist.

Die Sonne will ich genießen, zu irgendeinem schwarzen Sternchen will ich nicht verkohlen. Gott ist die Sonne, die immer leuchten kann. Ich werde kleine milde Gaben geben und dabei keine Ameise zertreten.

Süße Backwaren kaufen in Caleta Olivia. Eine medialuna essen auf der breiten Hauptstraße, verschlafene Bewegungen im Morgenlicht, die Schaufenster- und Ladenbesitzer stellen ihre Lautsprecher auf den Fußweg. Ich betrachte meinen langen Schatten, der sich auf die Betonpiste legt, alles legt sich irgendwohin, die Straße legt sich auf den Boden, die Musik legt sich über die Hauptstraße.

Ein Campingplatzwärter lud mich in seine kleine Küche ein. Es war Austausch von Musik. Ich hörte seinem Singsang zu und dem kleinen Radio. Wir tranken Mate. Schön bei einem Wärter zu sein, der etwas bewacht, damit etwas sicher ist; sicher, dass jeden Tag dasselbe passiert bei Mate, Kälte und Radio. Zum Essen schickte er mich auf die Straße ins Restaurant gegenüber. Eine Weile sah ich dort dem Fernseher auf einem Stuhl zu, beprostete mit dem Wirt mein Hiersein, hier in der Bruchbude, die überall eine Wiederholung ist. Der Billardtisch stand leer. Um zwei Uhr in der Frühe würden drei Deutschargentinier kommen, Bier auf die Stühle stellen, den Ball schieben und politisieren. So wie wir es taten, der Wirt, seine Frau und ich. Mann und Frau waren vor der Wahl in die zwei Parteien des Landes gespalten: Wie sollte das Kind erzogen werden in dem Stellwandhaus, das, während es aufgebaut wurde, bereits wieder auseinanderfiel? Der Mann deutete in alle Ecken: Mehr kann man hier nicht bauen! Glühbirnen kann man aufhängen. Das sollte die Regierung ändern. In einigen Jahren gibt es das Material zu besserem Bauen – aber nur wenn die Regierung bleibt. Die Frau, die aus dem Norden kam, war derselben Meinung – aber nur wenn die Regierung geht. Draußen wurde es nicht dunkel, schien mir.

Mühsame Illusionen zerstörende Fahrten in Patagonien, weit hinein ins endlose Ende der Welt, al confin del mundo. Je weiter ich kam, langsam, desto abgeschlossener lagen die Orte wie ihre Namen auf den Eingangsschildern: Willkommen in … Rawson, in Trelew, in Caleta Olivia … – nach allem war ich glücklich wieder wo zu sein, wo es etwas gab, das ich begreifen konnte – Namen, Häuser, vereinzelte Geschichten, aufgestellt und irgendwohin geschleppt, um gegen den Wind, dem nichts standhält, eine Wand zu errichten.

Ruben Sorgge nahm mich mit. Eigentlich hieß er Juan Martinez, jeder trage hier diesen Namen, sagte er, deshalb erfand er sich einen, den es nur einmal gibt. Wir fuhren von Caleta Olivia nach Los Antiguos am Lago Gral. Carrera durch die patagonische Steppe.

Manchmal gingen wir gemeinsam zum See hinunter. Ruben sah sich um nach einem geeigneten Platz, an dem er cabañas, Holzhütten für Touristen, aufstellen könnte. Mit den Hütten wollte er sich eine windgeschützte Zukunft errichten.

Spätabends saßen wir im Restaurant und spielten Karten. Wir spielten Karten in der Ewigkeit, dass wir uns mit etwas aufhielte.

So vergingen wieder die Tage. Die Leere des Landes war eine Wohltat und die Erzählungen Rubens rollten manchmal sinnlos ab wie Arabesken aus Buchstaben. Ich hatte die quirlige, melodiöse Bewegung seines Tonfalles im Ohr, während der Wind von den Anden herunterströmte, geradlinig, ohne seine Richtung je zu ändern.

So war es gewesen, als wir von der Küste hierherfuhren. Die fast vegetationslosen Weiden, die ausgefegten und ausgewaschenen Täler, die während der Fahrt langsam mit unserer Fahrtbewegung dahinschwangen. Ruben, froh über eine Begleitung, hatte Angst auf so verlassener Strecke alleine zu sein. Sich selbst begeisternd in der Öde entwickelte er die Idee einer Partei, redete von der früheren Arbeiterbewegung, von den Großgrundbesitzern, davon, wie das Land zu entwickeln sei. Patagonien war ihm die ruhende, mit einem Tuch zugedeckte Zukunft. Alles würde hier gedeihen, wenn die Politik es zuließe; es gäbe Bäume und paradiesische Gärten. Hütte, Windrad, Brunnen, mehr bräuchte das Leben nicht. Währenddessen saßen wir in unserer kleinen, rollenden Kabine, das Stoffdach des Autos flatterte. Einmal stiegen wir aus, spazierten in den Wind hinein, eine nackte Talwanne hinab, gingen mühsam über hartes Büschelgras. Die Erde trug rosa und gelbgrüne Farbstreifen auf, in der Ferne stauchten sich Wolken- und Landschaftslinien zusammen und legten sich auf den Horizont. Kalt und wolkenlos stand der Himmel wie eine bemalte Wand, als hörte der Raum über der Erde hier einfach auf.

Immer wieder, für Momente, war ich selbst ohne Vergangenheit, glaubte, mein Leben habe sich irgendwo hingelöscht, meine Kindheit, meine Freundschaften, meine Vorlieben. Gerade an diesem leeren Ort hatte ich das Gefühl, das erste Mal nach langer Zeit, hier zu sein, hier bei mir selbst. Bei mir, das war wie in einem der Läden aus Blech und Pressspan, mit leeren, wackligen Regalen. Es war schäbig. Es war wirklich.

Auf unseren Spaziergängen erwachte allabendlich Rubens Traum zum Leben, an dem ich gerne teilnahm. »Du musst die Wolken zum Stehen bringen!« Die Wolken zum Stehen bringen! Damit es regnen würde. Mit einem gigantischen Programm wollte Ruben Patagonien mit Bäumen bepflanzen. Das Land würde fruchtbar, Lebensraum würde sich ausbreiten. Oft dachte ich daran, die Wolken zum Stehen zu bringen. Dann sah ich auf den Lago Gral. Carrera, auf die entfernte, gegenüberliegende Seite, wanderte mit dem Auge den tafelartigen Uferabbruch entlang. Auf dem platten Land dahinter, zur linken Seite am Aufstieg der Anden, stand, gerade noch zu erkennen, eine schmale Reihe Pappeln, die eine Estancia als Windschatten umringten. Im ganzen Land verteilt Gruppen von Pappeln, glücklich aus der Sichtweite des Nachbarn.

Hier war eine Plakatwand aufgestellt worden, auf der dick und fett stand:

NICHTS

In der Pampa war nichts mehr. Ruben begann zu füllen, das durch totalen Krieg der Eiszeit zerstörte Land wieder aufzubauen. Ich ließ eine Leiche im Wind trocknen. Ich wusch mich rein am Anblick des Sees, meine durchlüftete Seele fuhr wie ein Schwamm darüber. Dunkelblau wie das Meer lag der große See eiförmig vor den schneebedeckten Bergen. Die Anden liefen aus zu einer Tafel, der See schnitt sich in sie ein und brach die graubraune Erde in einer 20 Kilometer langen Steilwand, der Seeabfluss grub sich in einen Cañon wie ein Spermienschwanz ein.

Meine eigene Estancia würde ich nennen: NICHTS. Ich würde meine Hängematte auf der Veranda aufspannen und im Wind schaukeln; säße Tag für Tag vor meinem Haus und würde nach und nach meine Augen begraben. Nie kann ich mich an unwirklicher Geometrie satt spiegeln. Hier begrüße ich Lao Tse, der mit einem Walkman aus einer Plastiktüte voll weißer Bohnen herausfällt, er hört sich das zinsmäßige Wachsen der Tausend-Markscheine an. Ich sehe den Wind über der Landkarte von Bayern und Österreich blasen mit 237 Flugblättern, mit dem Aufruf, das Trinkwasser zu boykottieren und von Notizzetteln auch die Rückseite zu verwenden, wie es der Rest der Welt tut. Der Rest der Welt zerfällt in Einzelteile, die Erde ist ein Teller, der größte jemals bestaunte Wasserfall fällt vom Tellerrand, kleine Engelchen fliegen holzflügelig um den Teller herum und schütteln ihre Kindsköpfe.

Die Erde dreht sich langsam, die Erde dreht sich nicht; auf sie plumpsen Ideen wie in ein Klo zum Wohle der Kloproduzenten.

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Hütte, Windrad, Brunnen || @ Bernhard Karlstetter