Die Namensgleichheit mit dem großen, fast größten in der Welt der Musik machte Herrn Wagner zu einem strengen Lehrmeister der ihm anvertrauten, unausgebildeten und dünnen Stimmchen. Für ihn war es eine demütigende Aufgabe mit uns Schülern zu tun zu haben, für ihn, den aus der Provinz stammenden Musiklehrer, den es nach großem Studium, welches ein erlesenes Bukett von Weltkünstlerbürgertum besaß, wieder in die Provinz verschlagen hatte, weil mehr als die Hoffnungen der Eltern zu erfüllen einem schmalen Talent nicht möglich gewesen war.
Er zog uns Fünftklässler an den Ohren in die Musikwelt. Er lehrte, dass man die Notenköpfe schön zeichnen muss, sonst wird die Musik unordentlich und modern. Sein stets abfragbares Alphabet war ein stimmloses Cdefgahc, das man von seiner Tafel blitzschnell ablesen musste, oder man durfte alleine ein Volkslied vorsingen.
Es schien, als wäre ihm sein Name ein Programm gewesen. Er maß sich selbst und die Welt mit größten Maßstäben. Dem Musiklehrer Wagner verliehen seine Kunst und Weltideale Größe. Seine Größe machte ihn streng, sein strenges Auftreten gefürchtet. Bei den Kleineren. Hätte er ein Hauptfach unterrichtet, so hätten ihm auch die oberen Klassen Furcht entgegen bringen müssen. Er war selbst ein Gezüchtigter: Fürchtete er nichts mehr als die Bambusstöcke seiner allerhöchsten Ideale der allerhöchsten Muse Musik.
Er war einer aus der Generation der ›68er‹, frisch entlassen aus seinem Studium, das nichts als Ordnung und Regel war: die Musik, ein System von Ordnungen. Die Ordnung, die er begriff, brachte er seinen Schülern bei, eine Ordnung fürs Leben: Lebensregeln aufgehängt und erwürgt wie die Notenköpfe in den Notenlinien seiner Zeichentafel, eine Ordnung der äußeren Erscheinung: Die Krawatte muss sitzen, der Kragen muss schleifen, der Anzug darf keine Krümel haben, nur Schuppen – die bemerkt man mit der Zeit nicht mehr, sie sind eine Eigenart geworden, wie etwa das hemmungslose Nasebohren in sich selbst versunkener Schüler, oder wie der Gesichtsausdruck eines Politikers, der Betroffenheit markiert: Man merkt es selbst nicht mehr, doch jedem fällt es auf. Mit den ›68ern‹ hatte er nichts zu tun, er hatte nichts für sie übrig, er war maßgeschneidert wie seine Anzüge, oder gescheitelt wie seine Frisur, Mitte rechts.
Regelmäßig gab es ein Vorsingen, um wieder neue Singvögel in seinen Chor aufzunehmen. Man war erwählt, wenn man singen konnte. Für die Betroffenen war es nur ein Nachsitzen am Nachmittag. Gegen seinen eigenen Willen, ja vielleicht gerade nur gegen seinen eigenen Willen, kam man zur Musik. Schon Mozart musste als kleines Kind auf sein Kindsein verzichten. Die Liste der Zwangserzogenen in der Musik ist lang, führte stets zu Höchstleistungen wie bei Spitzensportlern – solche Maßnahmen rechtfertigen geradezu von Ernster Musik zu reden, auch von Fragen, die in Musikfeuilletonkreisen ein ernstes Erörtern wert sind: Kann Musik von sich aus heiter sein? Ernste Musik kann es nicht. Musik von Wagner bis zum Schulchor eines Herrn Wagner kann es nicht. Es herrscht keine Begeisterung in den Chören. Was erreicht wird, ist ein Ringen, das sich selbst als harte Arbeit ausstellt.
Die Angst vor dem Versagen treibt die wagnerschen Musiklehrer von Leistung zu Leistung, schwingt sie in die Höhen der Engelsmusik ihrer Schulchöre, deren höchstes Ziel es ist, einen Wettbewerb unter gleich klingenden Mitbewerbern zu gewinnen und eine Auszeichnung zu sein für deren bescheidenen Leiter & der Stolz für den Schuldirektor obendrein, der sich mit Kultur gerne die schwarzen Schuhe poliert.
Reihenweise laufen den Wagners die Musenschüler davon und wechseln die Sparte von der ernsten zur populären Muse, deren einfaches Liedschema sich nie weiterentwickelte. Die Deutschlehrer erhielten Order auf die Dünnheit der Hit-Texte hinzuweisen, um zum Lehrideal des Abfragens von versfüßigen Kulturgütern zurückzuführen.
Es sind die Ideale, die sie peinigen, weil sie sich vor ihnen krümmen. Sie greifen ins Höchste und meinen tief fallen zu können, dabei stolpern sie auf ebener Erde über die eigenen Füße. Sie wähnen sich im freien Flug und haben sich auf die Zehenspitzen gestellt. Kaum einer wird es bemerken: Jeder klatscht Beifall zu einer hundertsten Uminstrumentierung irgendeiner Schulkomponistenkomposition, die sie in verschwitzten und kurzatmigen kreativen Stunden aufs Papier zitterten. ›Freilich, ein Wagner ist es nicht‹, liebdienern sie, die Wagners, und messen sich mit dem Ersten, um bescheiden sich mit dem zweiten Platz zu begnügen. Keiner wird es bemerken wie blechern ihre Chöre klingen, denn mit Idealen haben sie alle zu kämpfen. Sie verstehen einander sehr gut, Beklatschte und Klatschende, die in der Besoldung Notgelandeten und in der Ordnung verkriechenden Lehrmeister der katzbuckelnden und kratzfüßelnden Kämpfer für Ideale.
März 1992
Musiklehrer Wagner || @ Bernhard Karlstetter