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Beim Abendspazier mit dem Hund, zwei bis drei Stunden vor Mitternacht, kam ich an einem schwarzen Golf vorbei, aus dem ein schmales gelbes Gesicht herausleuchtete. Noch bevor ich erkannte, dass ein Handy, auf dem Finger herumfummelten, die gespenstische Beleuchtung abgab, erspähte mich das Gesicht, große finstere Augen sahen mich beunruhigt an, unmittelbar darauf hörte ich das Klicken der automatischen Türverriegelung. Ein paar Meter weiter an einer Kreuzung blieb ich stehen, wartete bis Moreno nachgetrottet kam. Auf der gegenüberliegenden Seite gingen andere Abendspazierer, an der Leine etwas kleines Weißes wie eine Katze. Ich blieb stehen, erspähte, ob Gefahr bestünde, dass mein gefräßiger Hund vielleicht zum Jagen anfinge, dann ging ich rüber – und hörte sogleich einen mächtigen Aufschrei, gefolgt von einem weiteren Schrei: »Haben Sie mich erschreckt!« und: »Hast Du mich erschreckt!« Mich selbst hörte ich leise entschuldigend sowie erklärend sagen: »Das ist mein schwarzer Hut.« Der Hut ist unschuldig, im tiefsten Innern weiß ich’s.

Andererseits kann ich es nicht akzeptieren – ich weigere mich! – anzunehmen, dass es mein Aussehen ist, das ein selbst als Gespenst erscheinendes Wesen dazu bringt, alle Türen wie aus einem natürlichen Affekt heraus zu verriegeln.

Daher kann ich, in der Erklärung vom allzu Naheliegendem als dem bloßen Augenschein, von einer völlig anderen Theorie ausgehen. Sehr wahrscheinlich ist, dass ich halb entmaterialisiert war, sozusagen durchscheinend. Das kann dann freilich zu den panikartigen Aufschreien geführt haben. Der Großteil der Menschheit, der kaum etwas vom Finanzwesen versteht, ist nicht genügend auf solche Entmaterialisierungserscheinungen vorbereitet und erschrickt, wenn alles Mögliche vor seinen Augen verschwindet.

(Pabblissitifoto meines Hutes mit mir in verlorener Halbprofilansicht auf einem unveröffentlichten Cover)

(Nochmal) Andererseits werden geistige Anstrengungen bereits zur Genüge ausprobiert, um uns vom Los der derben Materialität zu befreien. Eines Tages, davon bin ich heute Morgen fest überzeugt, werden wir selbst als Geistwesen und als bloße Information durch völlig unvorstellbare Welten schwirbeln und sie besiedeln. Mir ist erklärt worden, wie das funktionieren könnte: nur durch »Schütteln«. Schütteln befreit die für einen notwendige Information. Schüttle jemanden richtig, und er wird ausspucken, was du hören willst! Schütteln in Verbindung mit Potenzieren ist der wahre Informationsgeber; zu beachten ist, dass Potenzieren nicht Verstärken, sondern Verdünnen meint. Durch extremes Verdünnen kommt das Geistige zum Vorschein. Das klingt manchem vielleicht nach Homöopathie, ist aber Eigenbau; das ist mein geschütteltes Extrakt aus dem Erklärungsfundus von Freunden, die sich nicht von, sondern durch Homöopathie heilen lassen. Das ist Wissen aus erster Hand und nicht gebrochen durch langwierige Lehr- und Erklärungsnotstandsbücher. Mir erschien die Verstärkung durch Ausdünnung unlogisch; gerade das ist es, wo ich gesagt bekomme: Logik ist nicht alles! Das kann ich abnicken. Meinem Bauchgefühl, dass es sich um Blödsinn handelt, darf ich nicht trauen (da ich mit keinem nennenswerten Bauch bereift bin). Ich sage mir, der lebende Beweis, dass es mehr Dinge gibt, als ich mit dem Verstand fassen kann, umgibt mich täglich. Ich lerne es mit der Zeit: Die Glaubwürdigkeit von Argumentation nimmt zu, je weiter sie sich von Logik entfernt.

Die Technik des Schüttelns und Verdünnens haben unsere sogenannten Massenmedien vor langem aufgegriffen und verwerten sie täglich, um uns am Ende eines jeden Tages mit einem gerüttelten Maß an geschüttelter Information in einen belämmerten Traum zu versenken, der mit den Abendnachrichten beginnt und mit dem Morgenmagazin nicht beendet wird.

Das schrieb sich jetzt wie von selbst hin! Ich muss nicht erst zu einem Stammtisch gehen, um aus Urteilen gängige Vorurteile zu destillieren und zu verbreiten; einer meiner Stammplätze ist vor der Tastatur. Ich bringe das kleine bisschen Selbstkritik hier an – denn erstens steht sie mir gut und zu, und zweitens fühle ich mich getroffen, wenn ich wieder einmal in einem Artikel über einen Vortrag lese: »… und selbstverständlich durfte die Presseschelte nicht fehlen.« Die Presseschelte, das ganz und gar Abgedroschene. Jeder hackt auf der Presse herum, kaum einem macht sie es recht, bis auf ein paar Ausgewählten. Auswahl ist frei von Tendenz oder Vorliebe und erfolgt nach einem strikten Rechte- und Pflichtenkatalog; das macht jeder so, deshalb braucht man niemanden daran zu erinnern. Außerdem gilt: Wenn jemand die Presse schilt, dann ist er sich gewiss, dass Nachrichten tendenziös ausgewählt und beackert werden, vor allem Nachrichten über ihn selbst.

An meinem Stammtisch fehlt die Presseschelte nicht, geht auch nicht fehl – darauf insistiere ich! Wenn ich bedenke, wie viel Anstrengung notwendig ist, damit ich aus dem Sommerloch herauskomme, in das mich Zeitungen und Magazine mit vielen Fakten und Fakten und nackten Tatsachen und Nippelblitzern von Stars gelockt haben, dann muss ein Teil der Schande, die ich über mich empfinde, als Beschimpfung wieder zurückgegeben werden. Ich könnte mich schütteln, doch werde mich hüten, da ich weiß, dass Schütteln und Verdünnen die Wirkung verstärken.

Wenn ich aus dem Sommerloch wieder herausgekrabbelt bin, muss ich mich erst mühsam umsehen, um zu erkennen, wo ich gerade stehe. Vielleicht hundert Schritte begleiteten mich die Aufschreie und das Türenverriegeln, materialisierten mich kurzzeitig, schon bogen meine Gedanken an einer Verzweigung ab, ohne dass es mir groß auffiel. Das simple Hiersein ist kompliziert.

»Das ist eben so«, sagt zu mir oft einer von den Gerharden, die ich kenne und schätze, wenn ich etwas feststelle. Bei Gedankengängen gilt das auch; die sind so – so wie sie sind. Da denke ich einen Satz nach dem andern, erinnere nur das, was ich im Moment formuliere, und meine, es gehe geradeaus. Will ich mal zurückblicken, sehe ich in eine dunkle Röhre und muss mühsam zurückrobben, wenn ich verstehen will, wie ich an den Ort gekommen bin, an dem ich stehe. Bei Gedankengängen gibt’s keinen Ausblick, einen Überblick schon gar nicht. Den Gedankengängen hab ich mich verschrieben – sie niederzuschreiben, ist nicht so leicht wie ich mir’s wünsche. Vorm Schreiben lege ich eine kleine Route fest, auf der Sätze liegen, die ich bearbeiten und beackern will. Am Ende sind die Sätze nirgendwo aufgetaucht, stehen unterhalb des geschriebenen Textes, zusammen mit neuen Fragmenten, unkorrigierten Absätzen, Tippfehlern und Gedankensprüngen im Dreieck. Sie fügen sich nirgends ein, führen nirgendwo hin, dabei wollte ich über so vieles nur weniges sagen: Nichts habe ich geschrieben über:

Wissenswertes über das Schwein der Teiche – Spannende Duelle in den Altersklassen – Inselhüpfen mit dem Fahrrad – Schlappjagd bei Bilderbuchkulisse – Einer knackt die 3 Stunden – Gespür für Rassismus – Präsident aus der Lostrommel – Weiß-grüne Wutmeile aus Ärzten und Schwestern – Mord an der falschen Frau & Mann begräbt falsche Ehefrau – Suche nach Augenhöhe – Fastenbrechen in der Wärmestube – Immer mehr Väter in der Auszeit.

Nichts habe ich geschrieben über:

Hitlergruß als Teenager – Tibet als Prüfstein – Mehr Wind als Wirkung – Stadion als Lockvogel – Ein Tor als Folge logischen Denkens – Wir als Christen – Heim als Burg.

Über: Heizen mit Weizen? – Essen gegen Falten – Stille ohne Einfluss – Schnee statt Schlemmen.

Über: Europa zum Anfassen – Hunger, Armut und Prügel – Jammern gilt nicht.

Und: Herzen laufen über.

Das alles hängt mit der Bedrohung aus der Dose zusammen: Der Leser hat das Wort.

Schreiben werde ich demnächst über: Frauen hängen an der Zigarette. Ich habe das noch nie gesehen; manchmal beim Morgenspazier kann ich es so sehen.

Zum Abschluss bleibt mir eine einzige Frage, ich weiß nicht, wohin ich sie stellen soll außer ans Ende:

Reizt Wortbotschaft die Eierzerstörer?

31. Juli 2009

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