Geisterspazier → Girl Magnet gucken

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Ich lese, ich sehe und ich denke – ich kann es nicht abschalten: genau dafür ist Werbung an allen Orten. Dass ich in der Öffentlichkeit sinnlose Plakate sehe, die keinen Zusammenhang haben, ist selten, aber seit der Es-muss-ein-Ruck-durch-Deutschland-gehen-Bewegung vor 20 oder etlichen Jahren auch nichts mehr Neues. Ich sollte seither wissen, dass nichts dahinter steckt außer einer ärmlichen Mitteilung. Immerhin steht ein Bundespräsident mit seinem Namen für den berühmten Ruck, der nicht über den Plakatrand hinausging. Ich habe nie erfahren, was der Ruck war, noch habe ich ihn verspürt – ich habe keine außerordentliche Rempelei in Erinnerung.Doch vor ein paar Tagen fühlte ich mich angerempelt:

stand auf der Rückscheibe eines örtlichen Linienbusses. Ich konnte nix sehen! Ich wusste nicht, wo die Werbung dazu war. Dafür wurde ich mir bewusst, dass ich geguckt hatte; es war mir, als wäre es das erste Mal in meinem Leben gewesen. Es hätte der markante Spruch eines Kabarettisten sein können, der mit einem Bus durch die Lande dackelt. Es war ein Abklatsch davon, nicht so direkt (»Was guckst du!«). Ich muss mich damit abfinden, dass ich »gucke«; ich habe keinen Einfluss darauf, was andere wahrnehmen und wie sie es artikulieren. Wer guckt, sieht irgendwie blöd aus.
Vielleicht gucke ich hinterher, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe – gucke einer Dame auf der gegenüberliegenden Straßenseite nach. Ich hab ja nichts zu tun, während Moreno Blumen abschnüffelt und sich mit jedem Schritt viel Zeit lässt.

»He’s your girl magnet!«, sagte vor Jahren eine begeisterte Touristin aus einer Gruppe entzückter junger Damen zu mir. Ich konnte mir sogleich vorstellen, wie sich ein Magnet fühlt, und wie er funktioniert. Danach hatte ich auf die Wirkung meines Hundes größere Hoffnungen gesetzt. Vielleicht könnte sich erfüllen, was meine Großmutter mir einmal prophezeit hatte: ich würde ein rechter Casanova werden. Die Vorstellung wie ein rechter Casanova sein könnte, ist mir in Erinnerung, als eine jugendliche Süße in ihren Augen leuchtete, die mit der Milde ihres Alters zusammen eine beinah überirdische Wonne erahnen ließ. Ein richtiger Casanova war nie in ihr Leben gekommen. Vielleicht war er ihr begegnet, in einem Bel-Ami-Film, und sie spiegelte ihn in ihren Enkel hinein.
Der unfromme Wunsch einer Vertrauten meiner Kinderjahre – ist nie in Erfüllung gegangen. Ich konnte daher ein gewissermaßen ruhiges Leben halbwegs hinter mich bringen.
Der Girl Magnet an meiner Seite ist mittlerweile etwas ergraut, viele Hundejahre sind vergangen, Moreno ist ein langsam trottender Hund geworden. Hätte ich in jüngeren Jahren gewusst, dass es so etwas wie einen Girl Magnet gibt, ich wäre um manch hübsche Erfahrung reicher – dazu muss mann erst auf den Hund kommen.
Mit dem rasant zunehmenden Alter von Moreno sind auch unsere Bekanntschaften älter geworden. Moreno ist kein Girl Magnet mehr, obwohl er so »süüüß« ist; man merkt ihm das Alter an, und ihn interessieren Girls nicht mehr so sehr; er bemerkt sie oft erst, wenn sie vorüber sind, und dann guckt er ihnen nach. Ich habe mit ihm meine Wirkung ein wenig verloren; man grüßt mich aus der Ferne oder im Vorübergehen und hat es eilig – scheint mir. Nur wir beide sind langsamer geworden, wir trotten hinterher, und ich gucke dann ein wenig enttäuscht. Früher konnten wir mitziehen, und ein paar Worte flirten.
Das Hundejahr 2011 begann damit, dass es mir rückblickend erscheint, als hätte ich mehr Leute getroffen, deren Hund soeben erst gestorben ist, als in den Jahren zuvor. Morenos Anblick erweckt ein Mitleiden am Hund, das jedes Herrchen einmal erlebt. Man bereitet mich darauf vor, sanft. So sagte eine ältere Dame, die ihren vierten Hund vor kurzem begraben hatte, als ich ihr das Alter meines Hundes preisgab: »Dann haben Sie ihn die längste Zeit gehabt.« Rechnerisch richtig, es ist nicht zu erwarten, dass er 30 wird. Ein Ehepaar, das öfter anhält, weil Moreno ihrem verstorbenen Hund so sehr gleiche, erzählte mir, dass der ihrige 16 geworden sei und insistierte darauf, dass meiner krank sei, weil er schief laufe. »Sie haben ihn noch ein Jahr!«
Was kann ich gegen fremde Erfahrung sagen? Nichts. Ich lasse meine eigene nicht so leicht von anderen überschreiben. Somit schreibe ich hier gegen die drohenden Erfahrungen an, die mir wieder aufgedrängt werden. Es wird besser sein, ich treffe niemanden mehr beim Spazier; die Gespräche gleichen sich mehr und mehr, und drehen sich vernehmlich öfter um Krankheit und baldiges Ende.
Die Zumutung, die ich auf dem Busfenster gelesen habe: sie hat ihre Richtigkeit bekommen. Jetzt gucke ich oft mal hinterher, sehe nicht nix, Werbung suche ich vergebens. »Man wird nicht mehr gesehen«, sagt ein sehr älter gewordener Freund gerne, »aber man sieht noch, und das ist vielleicht noch schlechter.«
Es wird mir zugewunken – auf die Ferne brauche ich keine Brille. Bald kommt die Zeit, in der ich meine Brille suchen werde. So sagte ein Verkäufer in einem Brillengeschäft erst letztes Jahr, als meine Sehkraft bei einem Test intakt war: »Das wird schlechter, dem entkommen Sie nicht!« Er hatte schlechte Stimmung, und ich gute. Die Aussichten sind trübe. Ich will beim Hundespazier besser niemanden mehr treffen – mir täten ein paar aufmunternde Worte gut. Ein Jahr noch und ich trage eine Brille zu jeder Gelegenheit. Schärfer will ich nicht mehr sehen; auch nicht trüber.

25. Juli 2011

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Girl Magnet gucken || @ Bernhard Karlstetter