Geisterspazier → Vorwort von Unbenannt

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Da sitzt Unbenannt (mit zwei Brillen übereinander ein Prachtbildnis des gebildeten belesenen weißen Mannes) in einem Pariser Café (ein wahrer Geheimtipp, der nicht verraten wird, denn alsbald gäb es dort keine authentischen Einheimischen mehr), und denkt nach, wann er wieder flanieren könnte, um Eindrücke zu sammeln in sein kleines rotes Notizbuch im Kopf. Er ist Unbenannt. Wie alle ihm gegenüber, die noch unbenannt sind in seinen Gedanken.

Unbenannt sieht mich an und denkt nach; er hakt nach, er insistiert; er belässt es nicht bei einem ersten flüchtenden Blick, fängt jeden Gedanken ein, lässt keinen überflüssigen aus; er kennt nur weder-noch. Er lässt keine Ahnung durch sein Hirn laufen, beruft sich auf Vermutung und Geistesblitze aus dem Reich: Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt (Ham. 1,5). Dort ist er zu Haus’ und holt Einfälle zurück in seine Schulweisheit. Und stellt Fragen:

Was machen die Unbenannten auf diesen Bildern? – Woher kamen sie? Wohin enteilten sie, nachdem sie in den Rahmen gebannt waren? Wie viele von ihnen gibt es? Wer gehört zu ihnen? Was sind ihre Eigenschaften, was ihre rätselhaft-verschlossenen Gedankenwelten?

… In diesem Buch sind die Antworten darauf und auf viele Fragen mehr. Fragen, bei denen man sich fragt; Fragen, die man sich nicht stellt; Fragen, auf die man nicht kommt; Fragen, die man nicht hört; einfache Fragen, unbequeme. Sie müssen sich fragen lassen, Fragen müssen erlaubt sein; man wird noch Fragen stellen dürfen allen Unzufriedenen.

»Unbenannt«, das sind nicht du oder ich, sondern divers*, sie und er und B:innenMajuskelDenker_/:innen, kurz: die andern, die Sachen denken, an die gar nicht zu denken sind.

Was machen sie also, die Gedanken? Woher kamen sie, die Anlässe für die Betrachtungen? Was enthält das Buch?

Kosmische Gespräche mit dem Alltag werden in einem der drei Untertitel versprochen. Der Autor macht es sich leicht, und damit dem Leser schwer. Wenn ich ihn fragen würde, was er damit meinte, würde er ausweichen, von meinem Gehweg hinunter auf die Straße hopsen und ich könnte ihm nur nachwinken, wie er davondackelt mit seinen wieselflinken Beinen.

Es stehen verschiedene *-Wörter auf einigen Seiten (Betrachtung über Mohrenkopfwerfen, S. 57). Sie stammen aus einer Zeit, in der man sich nichts dachte, dabei, und auch sonst so manches anders als seither nicht richtig gesehen wurde. Hier wird es bereits richtig gesehen, zumindest angedacht.

Es war damals eine unverblümte Zeit, geradeaus, ohne Ecken und Winkel – Frauen begann mann erst zu beachten jenseits von süßlichen Hintergrundmelodien in der Netzstrumpfwerbung; Männer waren die unbefragten Herrscher und Helden und Familienoberhäupter. ›Koloniales Denken‹ war selbstverständlich und völlig unbekannt zu gleicher Zeit.

Die Kosmischen Gespräche mit dem Alltag, Betrachtungen streifen manchmal das Unwahrscheinliche.

Beim Schreiben wuchs der Autor über sich hinaus, denn ich persönlich kenne ihn aus persönlichem Umgang als kleingeistig, engstirnig, unverfroren und sehr überhitzt.

Warum nur schrieb er seine Betrachtungen? Um wieder in der Gegenwart anzukommen, war der Anlass, sagte er mir mindestens einmal, als ich ihn damals begleitete, als er wieder in die feindliche Welt hinausschritt. Er wollte raus aus seinem Turm ohne Fenster, aus dem Keller mit Wolken am Boden und wilden Gebirgen im Eck.

Komische Gespräche – das ist die Situation des Schreibenden an seinem Tischchen – ich seh ihn dort in etwas verkrümmter verkümmerter Haltung, wie er auf den Bildschirm starrt und versucht, hinter irgendetwas zu sehen. Was ist dahinter? Sein unaufgeräumter Arbeitsplatz mit der ganzen weiten Welt mittenmang.

Alt geworden ist sein Motto inzwischen: »Ich höre nicht mehr so wie in jüngeren Tagen – daher muss ich nachfragen.«

»Ich bestehe auf das festgeschriebene Recht auf Unverbindlichkeit, auf ein gesichtsloses Dasein, auf knitterfrei Gedanken. Ich bestehe auf meinem Recht auf Unwirklichkeit, Undankbarkeit und Undurchsichtigkeit.«

Wer hat das gesagt?

Ich,
gez.

(Unbenannt mit drei Brillen auf einem Sofa mit Blumenmuster, vor einem Vorhang mit Blumenmuster)

10. September 2020

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Vorwort von Unbenannt || @ Bernhard Karlstetter