Geisterspazier → Wann ist Gemüse tot?

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Die Frage habe ich mir gestellt, nachdem mir ein Freund seine Umstellung auf Rohkost damit erklärt hatte, dass es ihm sofort eingeleuchtet habe, als ihm ein Freund gesagt habe, gekochtes, gegartes Gemüse sei tote Nahrung. Totes ist für den Organismus schädlich. Sein Freund esse nur noch »lebendige Nahrung«: rohes Gemüse und Obst – und, sagte er, er habe sehr gesund ausgesehen.

Ist rohes Fleisch lebendige Nahrung?

Wenn ich darüber nachzudenken versuche, wird es komplizierter. Es geht über rohe Gedanken zu rohem Fleisch weit hinaus – und mich treibt es fernab in laue, seichte Altwasser. Nachdem ich die ersten Zeilen geschrieben hatte, fragte ich mich, ob ich meinen Freund erwähnen sollte. Würde er sich bloßgestellt fühlen, wenn ich auf vielleicht unbewusst sarkastische Weise seine Umstellung und Erfahrung darstellen würde? – ›Soll ich die Gespräche mit Freunden verwursten?‹, dachte ich. Eine grundsätzliche Frage. Wenn ich weiterhin so verfahre, spinne ich die Kränkung fort, würden sich meine Freunde rar machen, ihren Mund verschließen und mich mit meinem losen Maul reden lassen; offene Worte würden nicht mehr fallen, nur endgültige; man würde im Gespräch darauf warten, dass ich mich selbst bloßstellte. – Das mache ich ja schon. Die Frage muss vor dem Schreiben geklärt werden, hier und für alle weiteren Schreibereien.

Ich habe mich das oft gefragt: Wie halten es Schriftsteller mit ihrer Umgebung? Woher nehmen sie ihre Sachkenntnis, um Charaktere in Romane zu verwandeln – aus Zeitungen? Thomas Bernhard nahm keine Rücksicht auf Freunde; ich lese neugierig von richtigen Zerwürfnissen.

Andererseits besteht die Gefahr bei mir nicht, dass sich jemand erkennt: Meine Freunde lesen nicht, was ich schreibe. Ich benütze sie ein bisschen, um meine eigenen Gedanken aus einem finstern Kohlenkellerloch, das ich mein Inneres nennen kann, heraufzuschaufeln. Die schütte ich auf einen Haufen, entzündle sie, um mich mit dem glimmenden Feuerchen ein wenig warm zu halten in diesen kalten Tagen – sehr allgemein gesprochen.

Zurück an der Feuerstelle, dem Herd und dem Kochtopf, bin ich beim Thema. Das Ergebnis meiner Gedanken über lebendige Nahrung ist so unwesentlich, dass ich es hier verkünde: Als lebendige Nahrung sehe ich nur Fleisch vom lebenden Tier an, alles andere ist tote Nahrung, in verschiedenen Stadien der Verwesung. Es dürfte der grausliche Gedanke an Verwesung gewesen sein, der zur einfacheren Unterscheidung in tote und lebendige Nahrung geführt hat. Mit Verwesendem will ich mich am allerwenigsten in Berührung bringen. Verwesung ist vom Charakter her ein Übergang; hier gibt’s keine genaue Grenze, nur Nuancen.

Spreche ich von ›toter Nahrung‹, dann muss ich klar unterscheiden zwischen tot und lebendig. Das gibt ein sicheres Gefühl noch zum Lebenden zu gehören. Wie unterscheidet sich das Tote vom Lebendigen? Das klingt simpel und verlangt eine gerade Antwort. Meine lautet: Die Seele muss draußen sein! Und wo Seele ist, das definiere ich selbst.

Wann ein Mensch oder ein Tier tot ist, lässt sich leicht sagen. Dass nach dem Tod eine Weile die Nägel weiterwachsen, macht einen Menschen für uns nicht mehr lebendig. Unter einem menschlichen Leben verstehen wir mehr. Das tierische Leben ist, soweit vom Menschen wohl betreut, zum großen Teil auf sein Ableben hin für uns von Bedeutung. Der Tod und das Zubereiten zur Verspeisung sind das Ziel unserer massenhaften Tierliebe und -pflege; Nutztierrassen sterben aus, wenn wir sie nicht mehr benötigen; Haustierrassen entstehen nach Mode- und Niedlichkeits-Gesichtspunkten und gehen durch Vermischung, sprich Vernachlässigung, wieder ein. (Die Katze als solche allerdings bleibt ein wildes, extrem gefährliches Massenmördertier, das für das Aussterben unzählig vieler Vogelarten auf allen Kontinenten verantwortlich ist, las ich vor einigen Tagen – die Katze ist uns sehr ähnlich und verdankt ihre weite Verbreitung in zivilisierte Wohngegenden uns. Wir tragen gerne zur Verbreitung überlegener Arten bei, die den Kampf um die Vorherrschaft auf dem Planeten, für sich entscheiden. Die Katze aber, heißt es nun, muss bekämpft werden. Wissenschaftler geben dem neuseeländischen Katzenanalytiker/hasser, der uns vom Massenmördertier berichtete »teilweise sogar« recht. Über das Ausmaß der Zerstörung, das ich mir sehr gut vorstellen kann, bin ich entsetzt. Ich trage schwer an dem großen Vorrat an dunklen Bildern in mir.)

Gegen Mittag, beim Überlegen, was ich mir in die Pfanne haue, kam ich wieder zum Thema zurück. Esse ich gesunde/lebendige Nahrung oder kranke/tote? Fleisch gibt es selten bei mir, und wenn, dann hoffe ich doch, dass es tot ist. Bei Gemüse dagegen frage ich mich, ob das wirklich gut ist, was geschmort, angebraten und gedämpft wird. Ich könnte es daran ermessen, dass ich immerhin über mehrere Jahrzehnte mit dieser Nahrung hinter mich gebracht habe; so schlecht kann totes/gekochtes Gemüse nicht sein. Niemand ist ganz gesund oder gesund genug. Fühle ich mich wohl, hilft mir eine Augendiagnose auf die Sprünge: »Die Iris ist unklar, Sie sind innerlich verschleimt!«, wurde mir einmal gesagt. Warum ließ ich mich darauf ein, wo ich so skeptisch allem Heilerpraktischen gegenüber bin? Ich sei sozusagen innerlich vermüllt, ließ ich mir sagen – und ich ließ es mir gefallen. Es wurde mir zwar nicht aus der Seele geredet, aber mir gut ins Gewissen geredet, meine Ernährung und mich selbst auf Klarheit umzustellen – warum war ich beim Heilpraktiker? Keine Bananen mehr, keine Milchprodukte. Kein Käse mehr? Ein Leben ohne Käse ist wie … Sinn ohne Unsinn. Das lehne ich grundsätzlich ab. Meine Iris wird mittlerweile unklarerer sein, vielleicht bereits sogar so getrübt wie mein Verstand, der eine Augendiagnose mit ganzheitlichem Ansatz Gehorsam verweigert.

Anstatt mir in die Iris zu schauen, könnte ich an meiner Fußsohle nachsehen; auch dort spiegeln sich alle inneren Organe wider, gemäß dem Motto: Alles bildet sich in allem ab – is-ä-ois-oans. Eine alte Weisheit, auf die man gerne und bei wachsendem Bedarf zugreifen kann. ›Du kannst das Große im Kleinen erkennen.‹ Es gab neulich die Möglichkeit einen Vortrag über ganzheitliches »Gesichtszeichenlesen« zu lauschen: Wer die Zeichen richtig deute, der könne erkennen: seelische und gesundheitliche Probleme. Dass es die genug gibt, und dass wir danach suchen bei uns und bei andern ist keine Krankheit, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ich wäre hingegangen, läge mein Interesse am Zeichen- und Symbole-Lesen nicht gerade sehr am Boden und möchte ein wenig in Ruhe im Gesundheitsschlaf dösen.

Wer mehr weiß, ist klar im Vorteil beim Kampf gegen sich selbst. Freilich sind all die ganzheitlichen Erkennungsdiagnosen ernsthafter als Kaffeesatzlesen, wie ich sie hier darstelle (obwohl ich Kaffeesatzlesen vorziehen würde allen anderen Alles-bildet-sich-in-allem-ab-Theorien). Wenn einer daraus meine seelischen Probleme lesen kann, bin ich ganz Ohr, denn das Innere, das ist eine unsichere Sache, die muss man aushorchen; es sind dunkle Verkrümmungen und Verbiegungen, die mich nicht ganzheitlichst werden lassen. Ich will zum ganzen, heilen Mensch gesunden, an dem die weltliche Unbill keinen Kratzer mehr einritzt. Dann lässt mich die Welt in Ruhe, oder ich sie.

Das Leben von Pflanzen habe ich nach so vielen Zeilen kaum bedacht. Ich spreche nicht mit Blumen, ich habe nur einen Kaktus; ich spreche nicht mit ihm. Ich hab ihn so lieb, wie ein Mensch einen Kaktus lieb haben kann: Zum Kuscheln ist er ungeeignet, als geistiges Wesen, das auf dieser Erde wächst und gedeiht und somit Teil der Gesamtheit ist, die ich mitunter (an)erkenne. Beim Anblick der Stacheln, beachte ich ihn und bewundere ihn. Ich betrachte ihn bisweilen und habe meine eigenen vergessenen Gedanken dabei. Der Kaktus begleitet mich in seinem Topf seit über 30 Jahren. Er war an meiner Seite, blieb immer seinem Topf treu. Still und manchmal unbeachtet hat er mich in Lebenskrisen und Schaffenskrisen gesehen, am Fenster stehend, hat mir geholfen mit seinem nie nachlassendem Wachstum – das klingt zu sehr neoliberal, ich schreibe dann lieber: Gedeihen.

Wenn der Kaktus einmal tot ist – sofort werde ich es nicht erkennen. Er stirbt sich langsam weg, nehme ich an. Als Nahrung könnte er mir vielleicht als toter Kaktus dienen – wenn ich denn am Verdursten wäre in meinem wüsten Arbeitszimmer. Einige Tropfen Flüssigkeit sind in einem Kaktus bis über seinen Tod hinaus – ich muss ihn nur feste drücken. Sein Tod dürfte nicht leicht festzustellen sein. Gestehe ich ihm eine Seele zu, dann lebt er weiter, und sein Tod ist nicht endgültig und nicht umsonst. Überhaupt: wenn ich Seele als existent in Betrachtung ziehe, dann ist es leichter, Tod vom Leben zu unterscheiden. Das eine trennt sich vom andern, das Leben verliert seine körperliche Hülle und lebt nackt im geistigen Universum weiter. Und wenn ich ihn essen würde, dann nur seine physische Hülle. So viel zum Kaktus.

Es liegen gelagerte Äpfel in einem kalten Raum nebenan. Ich hab sie selbst gepflückt oder vom Boden aufgelesen. Sind diese Äpfel tot? Wenn ja, wann starben sie? Wenn der Stängel, an dem er hängt, sich vom Baum abschließt und keinen Saft weiterlässt? Oder fängt dann erst das Apfel-Leben an, mit Beginn der Vollreifung – die wiederum im Hinblick auf den genussreichen Verzehr so bezeichnet werden kann.

Was macht den Unterschied zwischen Leben und Tod? Das Zugeständnis an das Leben, dass es eine Seele gibt, dass es etwas gibt, das jenseits dessen ist, was wir als Körper wahrnehmen. Wir können das Leben nicht weiter denken, als wir selbst es wahrnehmen und definieren. Um uns selbst herum ist es klar; weiter weg hat es Sinn, wenn wir es auf uns beziehen. Ob ein Körper tot ist oder lebt, wenn wir es sagen: Auch Verwesung ist Veränderung und Übergang. Doch wir brauchen die Grenzen.

Wann Gemüse für tot erklärt werden muss, weiß ich nicht; irgendwo zwischen knackig und matschig – ich kann es nicht wissen, ich glaube es – und hier scheiden sich die Geister. Ich habe mich nicht entschieden, ob ich dem Gemüse einen Geist zusprechen möchte. Beim Menschen bin ich mir sicher: Ich brauche ihn; es fällt mir schwer, ihm zu entkommen.

Als ich meine Mutter auf dem Sterbebett einen wahrlich unheimlichen Seufzer ausstoßen hörte, wusste ich, dass sie in diesem Moment gestorben war. Ich hätte meinen können, die Seele wäre mit dem Hauch aus dem Körper in den Äther entschwunden. Dass es die vom Druck der Knochen auf die Lunge entweichende Luft war, nach dem Ende der Herztätigkeit, hat meiner Fantasie und meinem Wunsch nach Mehr keinen Abbruch getan. Ich habe eine Weile mit dem Geist meiner Mutter geredet. Es hat mir geholfen. Ich glaube an die Macht des Aberglaubens.

11. Februar 2013

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Wann ist Gemüse tot? || @ Bernhard Karlstetter