In diesem Buch werden etwa 160 Personen und Persönchen! namentlich erwähnt, darunter 1a-Hullahullamädchen (S. 162), Barmann Jens (S. 180), Herr Bleibtreu (S. 108), Spililuli (S. 104) und Zwerg Hase (S. 103). Der Wichtigste von allen ist mir Tiln Rom. Er gewann eine Bedeutung für mich. Ich habe ihn am 17. Juni 1983 bei sonnigem Wetter kennengelernt auf einer Zugfahrt von München nach Altötting (ja genau der Ort, von dem die Süddeutsche Zeitung von Zeit zu Zeit zu berichten weiß, dass dort geborene oder gelebt habende Autoren, aber auch unerbittlich gewöhnliche Menschen, sich daran abarbeiten dort gelebt zu haben oder geboren worden zu sein – ich werde mich gelegentlich daran erinnern, wenn mir Abarbeit ausgehen sollte). Dieser spezielle Mann saß in einem Sechs-Personen-Abteil auf der Sitzbank mir gegenüber. Ich notierte sein Aussehen auf einen kleinen Block; er sah mir dabei zu und sah dann zum Fenster hinaus. So kam die Flexion zur Reflexion und Tiln Rom zu mir.
Ich beobachtete den Mann (Samstag, den 17. Juni, S. 13). Er war mir nicht sympathisch (aus unerklärlich chemischen Gründen, Stichwort: Spiegeleier-Physik). Deshalb ließ ich die Beschreibung entgleiten. Ich dichtete ihm Eigenschaften zu, die ihm, dachte ich, unangenehm sein müssten. Während ich schrieb, entschwand mein Gegenüber. Der Beschriebene auf dem Notizblock wurde zur eigenen Figur, die mit dem Mann, der bereits in Ampfing ausstieg, hauptsächlich eine Unähnlichkeit gemein hatte. So kam die Flexion zur Reflexion und Tiln Rom zu mir – ich schrieb es bereits.
Ungefähre Streckenwiedergabe München (links) – Altötting (rechts) über Ampfing (mittleres x), im Maßstab 1:1.307.000
Tiln Rom hatte auf derartig widerspenstige Art sein eigenes Leben gewonnen. Tiln Rom begann sich selbst zu gleichen und forderte von mir seine eigenen Worte, sein eigenes Aussehen, ja sogar seine eigenen Freunde und seine eigene Garderobe und Vergangenheit und Entwicklung. Später lernte Tiln Rom Perry Urz kennen. Davon handelt das Buch Tiln Rom, Töm Töff, Bingo und Ich, von dem ich mir große Hoffnungen mache, dass es einen Ruhm begrünen wird, der bislang nur pastell-farbenzart ist und auf etwas Kolorierung wartet mit hübschen roten Pausbäckchen zu beiden Seiten.
Zur Zeit der Abarbeit an dem Material zu diesem Buch war ich beschäftigt mit Lesen, kleinen Jobs und dem Studium der Malerei und Grafik. Ich war gewiss auch mehrfach verliebt. Das alles floss wenig in die Geschichten ein. Es war der Geist Tiln Roms, der mich durch alle Tage begleitete und mir Auftrieb gab, weiterzumachen, immer weiterzumachen und nur nicht aufzugeben. Niemals. Gar nie nicht.
Das überirdische Grillfest enthält bis auf die letzte Dezimalstelle genau 100 ›Geschichten‹ – wird jemand so viele lesen können? Wären 20 nicht genug gewesen? Wird irgendjemand mich verstehen? Wird man sich über mich ärgern, oder wird man mich müde belächeln, oder werden der Reihe nach Köpfe geschüttelt, zeitversetzt und an so verschiedenen Orten wie Köln, Radebeul & … Altötting?
Es gibt Exotisches zu entdecken (Elmendellmulihh) und Braves darf man lesen (Peter Brendel-Eilelolé, der Kopfmensch). Es werden wichtige Fragen gestellt (Was bedeutet das Piepsen am Ende der Tagesschau?) und keine Antworten gegeben (Lamentos und erschütterte Worte). Es wird im Dialekt (’s Schtudenterl) genuschelt und Hochdeutsch versucht (Vorwort).
Es wird mit leiser Stimme und sanftem Händedruck auf das Erstaunliche und Originale des Regionalen hingewiesen (Herr Max persönlich) in einer regional gefärbten Tonart, die ich selbst spreche.
Etwas Absurdität ist auf jeder Seite vorhanden – ich muss das nicht extra erwähnen, tue es, weil ich meine Gründe dazu habe.
Autoren erwähnen nicht gerne, woher sie ihr Material beziehen; ob sie abkupfern und neu anordnen (›neu erfinden‹), oder ob sie Mikrofone in Nachbarwohnungen verbaut haben und durch Wände lauschen. Woher haben sie all die intimen Kenntnisse ihrer Figuren? Ich rätsle darüber oft und oft.
Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, dass ich nicht der Original-Autor der Geschichten bin, die präsentiert werden. Es sind Lese- & Lesenacherlebens-Fantasiereise-Früchte (auf der vorvorletzten Seite befindet sich eine Danksagung und eine vage Quellenangabe dazu). Manche Geschichte ist zu meiner eigenen Verwirrung aus mir selbst heraus entstanden. Beschämt sehe ich, wie kümmerlich meine Fantasie dabei dahinverwelkte – war ich doch Jahrzehnte hindurch gerade auf sie so stolz und voll Hoffnung – und was nun, alter weißer Mann?!
Einige Personen haben nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätten. Spililuli und Muligeigimann – um nur zwei Beispiele zu nennen. Oder auch der Wersoweid, der nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Das ist nicht gerecht, das fühle ich.
Der Monolog ’s Schtudenterl ist eine Gedächtnis-Mitschrift eines über Tage währenden Gespräches aus einem befristeten und sehr prekären Arbeitsverhältnis. Er ist innerlich laut vorzutragen, mit einem gewissen, gewissen Tonfall.
Ein letzter Satz.
Ein letzter Satz muss folgen und hat die besondere Wertigkeit, die letzten Worten gebührt:
Sehr zahlreiche grammatikalische Missbildungen und Entgleisungen sind rein fiktional und haben mit der sprachlichen Wirklichkeit des lebendigen Lesers nichts zu schaffen; andere sind mir völlig entgangen und beim Nachahmen entgleist (entglitzert).
Juni 2020, in ungewisser Stimmung
Der Mann aus Ampfing || @ Bernhard Karlstetter