Herzweh-Trostnagel → Vorworte

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»Wirf nichts weg!«, sagte ein literarisch besorgter Freund, dem ich erzählte, dass ich zur Zeit auf einer Art Misthaufen arbeite und auszumisten beginne, Worte an denen mein Selbst hängt – er wird die Zeilen nicht missen, die er nicht kennt; er wird vor denen sitzen, die er in diesem Buch liest, sich seines Satzes erinnern und sich fragen, ob ich denn wirklich ausgemistet hätte. Er wird vielleicht glauben, das Nicht-Gedruckte wäre womöglich das Verständlichere, denn, wie ich in Gesprächen manchmal beweise, kann ich mich auch verständlich ausdrücken; es bleiben zwar immer Fragezeichen und Zweifel: Man müsse sich fragen, ob das, was ich sage auch so gemeint sei, sagte ein anderer, so gemeint wie ich es gesagt hätte (nachher weiß kaum jemand genau, was gesagt worden ist). Der Ton und der Unterton, die Musik und die Sphären davor und dahinter und darüber – darum geht es auch in diesem Buch. Wie drücke ich mich richtig verständlich aus? Eindeutig eindeutig ohne Zwischentöne und -tönungen.

Warum, wird sich der Leser bei der Lektüre fragen, hat sich der Autor das nicht vor dem Schreiben gefragt, wenn er sich durch die gehäuft unverständlichen Phrasen und Sätze schlängelt. Ratlos vor langwierigen Verdichtungen zu sitzen und zu sinnieren über Metaphern und Gleichnissen und Gleichungen kann Zungengenuss und Besserbelehrung bescheren, und Kopfzerbrechen bereiten, wenn es nicht aufleuchtet, woher das Gelesene kommt und was es bedeuten könnte, wenn auch das nicht begriffen wird. Selbstverzweifelungen können eine ehrbare Folge sein und der Gedanke, hier sei einem Dichtung begegnet. Dichtung kann man die Hand nicht schütteln und die Türe kann man ihr auch nicht aufhalten.

Das sind Nachwehen meines Deutsch-Unterrichtes. Und ein berechtigtes Anliegen des Lesers, der seinen lyrischen Verstand umsonst strapaziert, weil dem Poeten nicht draufzukommen ist.

Was will der Vorwortschreiber damit sagen?
Was soll das alles heißen?
Hat die Moral eine Geschicht’?
Was hat das mit diesem Buch zu tun?

Zwei Reaktionen auf Lesungen sind mir eindrücklich in Erinnerung geblieben, die sich mit dem Gehalt meiner Verdichtungen beschäftigen.

In einer Lesung in einem Münchener Literaturbüro trug ich neben Prosa das Gedicht Honig u. Mein Lebenswerk vor. Ich las es wie üblich schnell, sehr schnell; nicht um die Lesearbeit möglichst hinter mich zu bringen, sondern weil ich dachte, hier brauche es Tempo! Mein Lebenswerk (das gesamte) ist lang, es dauert vielleicht 10 Minuten, es beginnt und endet mit »Oboy«. Nach dem letzten Oboy brach Schweigen aus, bis eine junge Frau ihre Konsternierung überwand und die Frage an mich stellte: »Da war am Anfang ein Mann mit goldenem Hut … wo ist der geblieben?« Ich sehe die junge Frau stehend am Rande einer städtischen, weiten, flachen, im Abendlicht leicht dampfenden Müll-Landschaft, über dieser ihr Blick hin- und herschweifend … Schöne Wanderung …

Das war die zweite Reaktion, die ich auf den Band bekam, der diesem Buch den Titel gibt, Herzweh-Trostnagel.

Die erste betrifft den Band Irrnis.

Während meiner Studienzeit besuchte ich alle paar Monate meinen 80-jährigen Großonkel Rupert und redete mit ihm über Kunst, Gott und die Welt. Er hatte eine Reihe Deutsch-Lehrbücher für Gymnasien veröffentlicht, zahlreiche Gedichtinterpretationen geschrieben und war Mit-Herausgeber der Aufsatz-Sammelbände Wege zum Gedicht. Er sprach ruhig, fast weihevoll über Dichtung. Einmal sagte ich ihm, dass ich Gedichte schreibe, daraufhin bat er mich, ihm beim nächsten Mal etwas zu zeigen.

Einige Wochen später überreichte ich ihm meine frischsten Zeilen. Beim übernächsten Besuch bat er mich, ihm aus einem Manuskript, >>>>BILD
das ihm ein Verlag zur Begutachtung geschickt habe, etwas vorzulesen. Vieles, was man ihm schicke, sei nicht erwähnenswert, eines habe er vor kurzem bekommen, zu dem er meine Meinung hören wolle, er stehe ratlos davor; der Verlag erwarte eine Antwort. Er gab mir mein Typoskript in die Hand und bat mich daraus Klage zu lesen. Es sei ein schönes Gedicht, sagte er dann, doch bleibe ihm seine dunkle Welt verschlossen, er könne diese Bildersprache nicht entziffern. Vielleicht sei es »hermetische« Dichtung in der Folge Trakls und Celans.

Was ich antwortete, weiß ich nicht mehr – es würde mir sehr helfen, mich selbst besserer zu verstehen, mich als jungen Mann. So sah ich mal in die Welt:

Diese Gedichte sind über 35 Jahre alt. Sprache, Pathos und Inhalt sind mir sehr in die Ferne verrückt.

Hiermit, literarisch besorgter Leser, gebe ich den Band weiter aus den Händen meines Großonkels … Wenn Sie rat- und verständnislos die Zeilen eine nach der andern lesen – blättern Sie weiter. Verständlicher wird es kaum, nur anders, lauter, ungehobelter und bunter in den folgenden drei Bänden von Herzweh-Trostnagel.

Eine Auswahl aus dem dritten Band Lügen wie gedruckt las ein Schauspieler vor bei der Eröffnung einer Ausstellung meiner bunten Bilder. Er hat das Heft, das ich ihm gegeben habe mit Anmerkungen versehen, wie er es vorlesen möchte. Ich habe genau hingehorcht und fand, dass man sie vorlesen kann. Die Anmerkungen würde ich gerne weitergeben als Anleitung für innerliches Laut-
lesen, doch Zeichen lassen sich nicht übertragen, und vielleicht kann man sie auch anders lesen, mit der eigenen Stimme und dem eigenen Tempo. Vielleicht:

lesen sie
lesen sie laut
lesen sie es ruhig laut vor

ICH LÜGE WIE GEDRUCKT

na
tut das nicht gut

27. August 2018

Warum steht unter jedem Gedicht, jeder Textur das Entstehungsdatum?

Weil.

Es zeigt mir mit jedem Blick darauf, wie sehr von gestern und verblichen alles ist, was vorgestern war, vor der Pandemie 2020, die alles und jeden geändert hat; und dass davor doch etwas gewesen ist; wenn auch nur das Ungültige und völlig neu zu Bewertende.

4. März 2021

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Vorworte, Herzweh-Trostnagel || @ Bernhard Karlstetter