Realitätsferne → Fahrplan durch Notizzettelland

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Der bekannte Romancier und Lyriker Peter Altenberg nennt in seinen Büchern Sätze und Absätze, die er entweder nicht weiter ausführte oder die er aus unfertigen und verworfenen Texten zusammenstellte »Splitter«. Er hat sie gesammelt.

In der Bildhauerei gibt es den Torso als eigene Gattung. Im Pariser Rodin-Museum sind in einem Seitenbau, hinter Glasfenstern vom Garten aus sichtbar, unfertige Skulpturen zu sehen, die beängstigend und unheimlich wie aufgeschwemmte Körper sind, neben einem Torso, der das Unvollendete in Vollendung zeigt. Ein Meister wie der Maler Rodin kann das Unvollendete bewusst und mit voller Zielsetzung gestalten. Schuberts Unvollendete gilt als vollendet. Wer kein Meister ist, bei dem wird das Unvollendete extra weit entfernt von der Unvollendung sein, es ist schlicht nicht fertig.

Einer der Kunsterzieher, denen ich in meiner gymnasialen Lernzeit Widerstand entgegenbrachte, zeigte anhand eines
Gemäldes von Cézanne, dass ein großes Kunstwerk oder ein Werk eines großen Künstlers, zu jeder Zeit als fertig betrachtet werden kann. Ein großer Maler malt nicht aus, eine Skizze kann besser sein als das fertige Gemälde. Das habe ich mir von damals sehr gemerkt. (Ich bemühte mich, groß zu werden.) Bei Rubens glaube ich das besonders gut sehen zu können. Seine Ölskizzen in der Neuen Pinakothek tragen die lebendige Handschrift des Meisters; an den großen Ölschinken in den Räumen daneben gehe ich verärgert und mit geräumigem Kopfschütteln zügig vorüber.

Mich faszinierte früh in der Literatur das Fragment. Ich war zu Beginn meines Leselebens vor fünf Jahrzehnten verwundert, dass man einzelne Sätze, oder gar nur einzelne Wörter so bedeutend finden kann, dass sie in Büchern veröffentlicht werden. Mir kam, als ich etwa 15 war, eine Dünndruckausgabe der Werke von Novalis in die Hand, in dem mehr als die Hälfte ausdrücklich als Fragment bezeichnet war. Das schien mir das Lesenswerteste zu sein; doch ich las die Fragmente nur fragmentarisch. Beliebig herausgenommen aus einer zufällig aufgeschlagenen Seite: Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht – unendliche Sprachen — (oder nur ein Wort:) Netzform.

Altenberg, Rodin, Cézanne, Rubens und Novalis … es gilt den Anspruch herabzukurbeln auf das Eintopfmaß, in dem im 21. Jahrhundert gekocht wird. Mehr und wahrscheinlich weniger bedeutet dieses Buch für die nachstellende Zeit.

Meine Reise in die Realitätsferne bietet ein Reste-Essen an, mehr nicht, sage ich in rotwangiger Bescheidenheit. Reste-Essen allerdings haben einen hohen Anspruch an Geschmack und Tradition: Es sind oft die allerallerbesten Gerichte, die aus Resten entstanden sind … Hier sind die Zutaten. Gekocht wird im Kopf. Ein Eintopf oder rohgefleckte Mikarimi-Mockturtle-Wachs-Häppchen über geröstetem Froufrú mit walanischem Speisefliegen-Jus. Auf meiner Zutaten­ablage gibt es keinen Wertekanon, es liegen Tafelsilber neben Katzengoldigem, Scheibchenweisheiten über Vollkorn-Schrotkugeln und:

Gegessen wird gleich am Herd im Morgenmantel mit qietschigen Flup-Flups und am Abend auf dem Sofa, wenn Oma ihre Märchen erzählt.

Man muss nur zum richtigen Zeitpunkt aufhören an seinem Werkchen zu arbeiten – so kann man vielleicht diesen Torso-Anspruch umgehen. Politur kann schaden, sie hebt den Glanz hervor – die Moderne will alles andere als glänzen.

… ist ausgewiesen als Zitat in meinen Notizen; vielleicht habe ich das selbst formuliert. Jetzt bin ich mir schon unsicherer, ob es überhaupt ein Gedanke ist. Ich andenke ihn weiter: Du kannst etwas zu sehr polieren, dann bleibt nichts außer Glanz.

Ob Glanz oder glanzlos – dieses Buch ist das Ergebnis absichtslosen Schleifens und Polierens.

2. Februar 2020

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