Tiln Rom → Der größte Feind des Menschen ist der Staub

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Fünfzehntes Kapitel aus »Der Einsame, der Melancholische, der fassunglos Entzückte«

»Also für mich ist eine Sintflut ohne größere Bedeutung«, sagte Perry Urz zu Tiln Rom. »Im Verlaufe der Erdgeschichte, das habe ich im Verlaufe meiner zahlreichen Zeitreisen beobachten können, gab es immer wieder solche Veränderungen, die jetzt das Gemüt unserer Zeitgenossen so beschäftigen. Die Menschen erkennen nicht, dass der größte Feind des Menschen der Staub ist. Der Staub«, sagte Perry Urz zu Tiln Rom mit fetter Betonung eines besonderen Wortes, wischte dabei mit dem Zeigefinger am Fensterbrett entlang. »Siehst du, Tiln, das ist die größte Gefahr! Was sind diese Sintfluten anderes als kleine Veränderungen, die eine vorübergehende Beeinträchtigung auf der Erde verursachen. Später stellt sich das Leben wieder ein! Das gehört zur Erdgeschichte, die Veränderungen, die dauernden Veränderungen. Das ist überall so, im Weltall wie auf der Erde. Ich habe gesehen, wie ganze Sonnensysteme verschwanden. Das war oft ein schönes Leuchten! Als Astronaut aber fährt man weiter auf andere Abenteuer zu. Diese Veränderungen spielen sich in einem Rahmen ab, den man abstecken muss. Der größte Feind im Universum, sage ich dir, ist der Staub, Tiln. Der Staub wird immer mehr, der Staub wächst und wächst und zersetzt alles, dringt überall hin, an jeden Ort.«

Jetzt wischte Perry Urz mit dem Zeigefinger an einem Regal. »Siehst du, das ist der größte Feind des Menschen. Der Staub ist das Ende. Kannst du dir etwas anderes vorstellen? Er kommt überall hin, dringt überall durch. Selbst in den Raumschiffen muss man Staubwischen. Woher kommt der Staub, das wirst du fragen? Das ist das Schlimme: Er kommt von überall her.
Er kommt aus allen Dingen. Er fällt aus den Dingen heraus, solange bis die Dinge völlig zerfallen sind, Tiln, so ist das. Überall ist das so, auf dieser Welt und auf allen andern, und am Ende der Zeit auch – ich war dort! Ich habe es noch niemandem gesagt, denn es würde die Menschen deprimieren. Ich erzähle lieber von meinen Abenteuern. Das gefällt den Menschen mehr. Ich schreibe jetzt ein Buch meiner Abenteuer: Die Super-Abenteuer von Perry Urz, dem Astronautenschwein. Das wird die Leute ablenken von der Gefahr des Staubes, und wird sie aufheitern. Kein Wort schreibe ich vom Staub, denn den Staub sieht jeder immer und überall. Das würde die Menschen nur deprimieren, denn gegen den Staub ist nichts zu machen. Er wächst unaufhörlich. Es ist deprimierend.«

Perry Urz stand still ohne ein weiteres Wort, presste die Lippen zusammen, und nickte seine Rede dreimalig durch fast unbemerkbares Kopfnicken ab.

»Oft sitze ich in meiner Raumkapsel und schaue hinaus in die ewigen Sterne. Man sagt das aber nur: ›die ewigen Sterne‹, weil man nicht wissen will, dass die Sterne nicht ewig sind, ich habe es schon oft erlebt. Ich bin manchmal bedrückt dort draußen in den Weiten des Weltalls, weil alles im Staub endet, unweigerlich. Jopezl, der dann neben mir sitzt, kann mich nicht trösten, obwohl er vom Saturn kommt, wo es sich in schöneren Kreisen bewegt als hier auf der Erde. Doch es zerfällt auch bei ihm zu Staub, wenn es auch immer wieder aufersteht aus dem Staub. Am Ende bleibt der Staub Sieger, das sage ich dir, ich, von dem alle sagen, dass er die wildesten Abenteuer erlebt, und dass er es schön hat. Gewiss habe ich es schön, aber ich muss es auch einmal sagen, einmal muss ich es sagen, wenn ich sonst immer das andere sage. Ich sage es nur dir, weil du mein Freund bist, Tiln, weil du ein Abenteurer fast von meiner Größe und Unabhängigkeit bist. Tiln: Man muss sich bei Freunden ausreden können, deswegen hat man doch Freunde! oder Tiln?
Ich bin kein weinerlicher Typ, Tiln, das gerade nicht, aber wenn ich Staub sehe, ist das etwas anderes.«

»Jetzt reden alle von einer Sintflut, von Umweltbeschädigungen, die Behinderungen im Warenverkehr verursachen werden. Das ist alles nichts gegen die Katastrophen, die ich gesehen habe. Wer das einmal gesehen hat, alle Katastrophen der Vergangenheit! Aber das Leben ist nicht unterzukriegen, es entsteht immer wieder neu, wenn man glaubt, es geht nicht mehr weiter. Du wirst staunen, wenn ich dir davon erzähle. Man muss staunen, es kommt immer wieder etwas Neues. Man muss alles das an der Gesamtheit messen. Alles ist nur im Verändern begriffen. Wenn man das einmal begriffen hat, Tiln, dann geht es wieder! … Aber der Staub, siehst du?«, sagte Perry Urz und er blies auf einen Buchrücken, »siehst du hier, der Staub ist überall zugegen, er ist immer da, er verändert sich nicht, er ist immer derselbe, er ist das Ende. Das deprimiert mich, wenn ich so in die Sterne schaue, wenn ich sehe, dass alles einmal im Staub endet, auch Sterne enden als Sternenstaub. Der Staub verändert sich nicht mehr, Tiln.«

Jetzt schüttelte Perry Urz den Kopf, senkte den Kopf und legte eine Hand auf die Schulter von Tiln Rom. »Ich muss mich einmal aussprechen. Was reden jetzt alle von dieser Umweltzerstörung; das ärgert mich! Es gibt Veränderungen und Behinderungen. Man wird sich einstellen und umstellen. Es ist momentan schwer, aber mit der Zeit hat jeder sich eingestellt und es geht anders weiter. Natürlich ist es schade, dass vieles nicht mehr so funktioniert wie vorher. Schau zum Fenster hinaus: Es ist nicht schön, immer dieser Regen. Aber es gibt andere Teile auf der Welt, wo jetzt die Sonne scheint! Man soll sich nicht unterkriegen lassen, man soll das Schöne im Leben nicht vergessen. Was vorbei ist, ist vorbei. Es geht immer weiter. Das ist gut so eingerichtet von der Zeit. Wir müssen weitergehen, wir können das Rad der Entwicklung nicht zurückdrehen. Und wenn die Sintflut kommt, meinetwegen, dann bauen wir ein Floß und singen Lieder! Ich habe ganz Anderes gesehen, weit kosmisch Schlimmeres; ich habe Gammastrahlen einer fernen Sternexplosion verfolgt und auf andere Bahnen gebracht, bevor sie die Erde erreichten; ich habe gesehen, was diese Strahlen anrichten, in nur einer halben Atomsekunde! Was habe ich auf meinen Zeitreisen nicht schon alles erlebt: Als ein Meteorit auf die Erde einschlug und alles Leben auszulöschen drohte – das war etwas! Wie man weiß, ist es auch weiter gegangen, es hat gedauert, dann ist das Grün wieder herausgekrochen. Ich sage es dir, damit du den Mut nicht verlierst angesichts der kommenden Sintflut. Es hat wieder Tiere gegeben, neue, angepasstere, siehst du, und jetzt gibt es den Menschen und der ist am angepasstesten. Wer weiß, vielleicht hätte es den Menschen nicht gegeben, wenn damals diese Vulkane nicht ausgebrochen wären? Vielleicht wären jetzt immer noch die großen Echsen hier, ungeheuerliche Tiere, mein Lieber, die würden uns fressen – ich hab sie erlebt. Aber siehst du, es hat diese Asche gegeben und nun sind wir da, das ist Tatsache nunmehr. Na also, oder, Tiln?«, sagte Perry Urz und klopfte Tiln Rom zweimal auf die männlich starke Schulter.

Perry Urz ging in die Ecke des Raumes, wo seine elektrische Gitarre stand. Er schaltete einen Verstärker ein, setzte sich darauf, schlug die Beine übereinander, legte sich die Gitarre zurecht und begann sehr schön zu zupfen. Er spielte nur tiefe Töne zu Beginn. Dann nahm er einen Bogen und spielte mit dem Bogen jaulende, saftige, sanfte Töne, darauf zupfte er die Töne zu seinem großen Vergnügen, so wie sie ihm gefielen. Das ist jetzt sehr schwer wiederzugeben, denn Perry Urz versank in Wortlosigkeit. Er spielte seine Trauer über den Staub überall in die Töne hinein, das war deutlich zu hören. Er war inmitten der Versenkung über vielen Wiesen, wo es ganz lautlos war. Nur ein zerfranster Geigenbogen stand am Himmel.

»Komm«, sagte Perry zu Tiln, »nimm das Saxofon dort aus der anderen Ecke. Steh nicht abseits!«

Tiln Rom nahm das Saxofon, säuberte das Blättchen und fing an, sich wie eine große Schlange über die Wiese, auf der Perry ging, zu schlängeln. Perry war ja Tilns Freund; sie verstanden sich und so begleitete Tiln Perry auf seinem einsamen Weg über die Wiese. Dann & wann warf Tiln eine einzelne bunte Luftschlange in die Wiese, dorthin wo Perry wandelte.

Alexander von Pampe kam zufällig vorbei an Perrys Haus. Er hörte von der Straße her das Saxofon und die elektrische Gitarre und dachte sich, ›das sind vielleicht Tiln Rom und Perry Urz, die hier gemeinsam spielen, mal schauen, vielleicht kann ich mitspielen auf meinem Hackbrett.‹ Alexander läutete an der Haustüre, doch die anderen hörten ihn nicht. ›Sie sind zu sehr versunken‹, dachte er sich, ›dann rufe ich heute Abend an.‹ Der sanfte Alexander ging wieder durch das kniehohe Wasser nach Hause, sein Hackbrett unter dem Arm.

Perry Urz unterbrach sein Spiel. »Dass der Mensch so sein muss! Ja, das wundert dich, dass du so etwas von mir hörst, Tiln, nicht wahr? Ich muss es einmal sagen, nachher ist wieder alles anders. Dass der Mensch immer klagen muss? Ich versteh das nicht, Tiln. Was macht das schon aus? Auf der Erde ist es ein Kommen & Gehen und nichts ist ewig. Wir dürfen nicht wie Ratten das sinkende Schiff verlassen, auch wenn wir selbst wie Ratten sind, verzeih den tierisch-abgründigen Vergleich, Tiln, wir müssen ein Floß bauen, damit wir auf und davon segeln können.«

Sie gingen nun aus diesem kahlen Raum und setzten sich in einen anderen, in bequeme weiche Sessel. An einer großen weißen Wand hing ein großes Bild in einem Glasrahmen, darin waren zahlreiche kleine Fotos, auf denen nichts zu sehen war.

»Du schaust dir die Bilder an, Tiln. Ja, das sind Fotos auf denen ich Staub abgelichtet habe. Dort in der Ecke in dem Glaskasten
siehst du die Staubballen, die ich Woche für Woche aus einer Ecke zusammenwische. Es beruhigt mich. Ich mache das jede Woche. Das ist seltsam, aber so bin ich nun einmal, Tiln, einmal und viel öfter noch. Der Staub, dieses unveränderliche Wesen, drängt sich in mein Leben ein. Und jetzt, Tiln, lass uns wieder zur alten Form zurückfinden.«

Sie gingen zurück mit den Bierflaschen in der Hand in Perrys Musikzimmer. Perry schaltete den Verstärker erneut an und begann auf der Gitarre zu spielen, diesmal in einem schönen Rhythmus, so

b-bm bh-bh
b-bm bh-bh

dann schwenkte er herum, so:

dh-dnd dh’dh’
dh-dnd dh’dh’

und sang ein kleines Lied, das ihm vom Herzen stromerte. Tiln Rom legte sich mit dem Saxofon ins Zeug. Perry Urz sang:

»Das gibt ein böses Erwachen,
wenn wir über den Staub weiter so lachen.
Diese Zweite Sintflut,
die ist doch nur Treibgut.
Der großen Schneeschmelze
rücken wir zusammen auf den Pelze.
Hey Tiln, nicht wahr!
Das gibt ein böses Erwachen,
wenn wir über den Staub weiter so lachen.

Haah!«, sagte er und fügte weitere lustige Zeilen hinzu, mit einem oder zwei Schalzer.

»Amsel, Drossel, Fink und Star
und die ganze Vogelschar
fressen wir mit Haut und Haar!«

Jetzt legte sich Perry Urz erst wirklich ins Zeug und spielte ein Solo, das aufjaulte und sehr befreiend einerseits war, wie es nur zu wünschen ist, eins von diesen großen Gitarrensoli, die richtige Männer so wunderbar jaulend und virtuos spielen können.

»Es war schön, dass du gekommen bist«, sagte er, »doch jetzt musst du gehen. Ich muss alleine sein und über den Staub nachdenken.«

Sie sahen zum Fenster hinaus. Da draußen lachte die Sonne bereits. Trübsal blasen, das tut sie nicht!

Perry Urz legte die Gitarre weg. »Das ist schon etwas ganz anderes jetzt, nicht wahr, Tiln? Was sagte ich dir? Die Sonne scheint wieder. Hab ich es dir nicht gesagt? Jetzt ziehen die Wolken vorüber, gehen wieder weiter in ein anderes Land. Das habe ich gesagt, du erinnerst dich: Ich habe gesagt, dass das Leben nicht unterzukriegen ist. Es geht immer weiter. Warum soll es gerade jetzt anders sein?«

Tiln verabschiedete sich von Perry, und Perry sagte: »Es ist doch schön, gute Freunde zu haben. Das denke ich mir immer, wenn ich im Weltall bin, schön, dass du Freunde hast, Perry, mit denen du alles teilen kannst, die guten wie die schlechten Zeiten. Bis später.«

Perry Urz ging zu seinem Swimmingpool, wo ihn Xena mit nichts als ihrer Haut und einer blonden Mähne bekleidet erwartete. Das ist Perrys wildes und unbekanntes Leben, das er hier fortsetzte, jetzt im Augenblick.

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Der größte Feind des Menschen ist der Staub || @ Bernhard Karlstetter