Türspion → Blaue, schwarze und weiße Bilder

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Als Kind hatte ich Fieberträume, in denen die Dinge aufquollen und bedrängten und ihre Dimension verloren. Die Zunge schien aufgedunsen, die Fingerkuppen wurden zu Hügel und ich spürte jeden Hauch aus meinem Mund, als wäre ich selbst das Gras auf der Erde. Ich hörte überdeutlich, was die flackernde Kerze sagte und wie alles sprach um mich herum. Das Jesuskind auf dem Bildchen an der Wand versuchte mich mit seiner hellen Stimme zu beruhigen. Doch der erwachsene Jesus auf seinem kalten Eisenkreuz, das ich jeden Abend küsste, um gut schlafen zu können, sagte, dass die Welt ihn verlassen habe. ›Du hast es gut – ich dagegen muss über deinem Bettchen an einem kalten Kreuze hängen, und du hast eine warme Decke. Schau die Nägel in meinen Füßen und Händen an!‹ Ich sah sie mir an. Es würde Jesus nichts helfen, wenn ich ihn von seinem Kreuz nähme, dann hätte er Löcher in den Knöcheln und er bliebe weiter unbeweglich mit ausgebreiteten, leicht verrenkten Armen. Ich redete mit ihm, redete ihm gut zu, aber Jesus hatte in den Schmerz versunkene, geschlossene Augen.

Dunkelheit begleitete meinen jahrelangen Geburtszustand: Dunkel war es unter meinem Bett. Ich konnte Hände daraus hervortauchen sehen, Hände an abgeschnittenen Armen, die in der Nacht herumkrochen. Ich sah große Elefantenfüße, die auf aus der Erde wachsende Köpfe traten. Ich sah zum Fenster hinaus und sah wie der Himmel zerriss, sah die Wolken am hellen Tage schwarz werden, sah aus den Augen meiner Freunde Geister fliegen. Auch aus der kalkigen, feuchten Wand, in die ich Zahlen kritzelte, wanderten Finger heraus, das Mondlicht zeichnete in die abblätternde Farbe Gesichter.

Meine Eltern sperrten mich in den Keller, wenn ich etwas Böses getan hatte: Ich wusste nie, was es gewesen war, deshalb sollte ich darüber nachdenken. Im Keller wohnte eine Hexe mit ihrem Löwen. Ich schaltete das Kellerlicht an und durchsuchte die Räume. Sie versteckte sich im Schatten. Sie war hinter den Tankkesseln und unter den Holzbündeln. Manchmal ging ich mit einer Taschenlampe in den Keller, aber sie bewegte die Schatten und so wanderte das Dunkel mit mir. Ich wartete oben auf dem Treppenabsatz. Ich rief: »Lass mich raus, Mutter, lass mich raus!« Sie war im Garten, sie konnte es nicht ertragen, mich schreien zu hören. Die Hexe und der Löwe hatten Geduld. Sie wollten mich fressen, denn man wirft die bösen Menschen den Löwen zum Fraß vor. Wenn ich nicht gut würde, käme ich auf die Galeere oder zum Militär, sagten mir meine Eltern. Auf der Galeere bin ich immer in Ketten. Ich hatte es gesehen: Große kräftige Männer stehen über mir und schwingen die Peitsche – wie sollte ich das durchstehen? Die Galeere und das riesige Meer. Es ist wie im Fieber: Das Wasser ist gewölbt, die Erde ist rund, dort schwimmt die Galeere und die Sklaven schreien.

Nie erhob mein Vater einen Hand gegen mich. Meine Mutter sagte, Vater sei böse mit mir. Ich ging hinab in die dunklen Räume, dort gehörte ich hin. Die Hexe war da, sie stand in einer offenen Türe, die zum Garten hinausging. Es leuchtete blau um sie herum. ›Du brauchst keine Angst zu haben.‹ Ihr Löwe war nicht mehr an ihrer Seite, ihr Kopf war nun ein Löwenkopf. ›Du kannst immer herabkommen, ich beschütze dich‹, sagte der Kopf. Ich schlief unten im Heizungsraum ein, da roch es gut nach Reise, nach Auto; rollende Räder hörte ich, eine Straße glitt unter meinem Auge davon, es war Nacht. Ich fuhr weit weg.

»Du darfst wieder heraus!«, rief meine Mutter weit weg hinter einer Schlucht aus weißen Gängen und Mauern. Ich ging aber nicht aus dem Berg hinaus. Jemand kam den Schacht zu mir herab. Mutter nahm mich am Arm. »Was machst du im Dunkel? Komm wieder herauf und entschuldige dich bei Vater.«

Verstecken macht Spaß, dachte ich mir. Jesus kennt es, denn er ist in einem weißen Grab gewesen und hat sich dort versteckt. Als man ihn suchte, fand man weiße Tücher in seiner Höhle. Frauen weinten. Jerusalem ist eine schöne Stadt, mit Ölbergen und weißen Tüchern. Es gibt einen steinigen Schädelberg. Als Jesus gekreuzigt wurde, riss sich der Himmel auf über der Stadt, wie ein großes Tuch; das war ein Zeichen für die Menschheit. Oft sah ich in den großen Hallen der Kirchen Bilder von Jesus in seiner schönen Stadt. Im Krankenhaus, wo ich drei Wochen liegen musste, gab es ein bewegliches Bild hinter einem Glaskasten. Ich stellte mich vor dem Bild auf. Es kam ein Erwachsener und warf zehn Pfennige hinein und dann leuchtete es und die Figuren bewegten sich. Jesus stand dort und trug ein Kreuz. Viele Figuren gingen einer Tätigkeit nach, eine Musik spielte. Aus einem Wasserhahn pumpte ein alter Mann Wasser in einen Eimer. Es war in Jerusalem. Frauen standen um Jesus herum, sie weinten um Jesus an dem Kreuze und an seinem Grab. Eine Frau war eine Sünderin, aber Jesus hatte ihr vergeben.

Später wurde ich auf einer langen Bahre durch die Gänge des Krankenhauses gerollt. Es war schön zu gleiten, es war fast, wie wenn ich herumflog in den Gängen meines Kellers. Zwei Gesichter sahen zu mir herab, Frauen, die mich umsorgten und sagten: »Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst nichts spüren.« Im Operationssaal war über mir eine große vielaugige Lampe, der Raum war weit, die Stimmen um mich wurden deutlich und klar. Jemand hielt mir etwas Übelriechendes vor die Nase. »Jetzt zähle langsam bis zehn, dann fällst du in tiefen Schlaf«, sagte eine Schwester. Ich versuchte so weit zu zählen wie möglich, dann fiel mit einem Mal alle Kraft aus meinem Körper und ich war nicht mehr. Seither hasse ich Bewusstlosigkeit.

Ich sah einen sehr alten großen Mann, der in meiner Nachbarschaft lebte. Ein Freund sagte, er heiße Herr Niemand und deshalb sei er niemand. Wir riefen ihm auf der Straße nach: »Herr Niemand!« Er hörte uns nicht. Herr Niemand ging stumm durch die Straße in seine Wohnung. Ich beobachtete ihn heimlich hinter dem Zaun eines Gartens. Zu gerne hätte ich ihn fragen mögen, ob er wirklich Herr Niemand heißt. Ich ging ihm nach, doch an der Türe stand kein Herr Niemand. Er wohnte also nicht hier. Er verschwand im dunklen Hauseingang und war weg. Es gab ihn nur, wenn er die Straße entlang ging bis in den Hauseingang, wo es kalt war.

Die anderen hatten Herrn Niemand lange vergessen, aber ich dachte an ihn, wenn ich wieder im Keller war. Herr Niemand verschwand stets in einem Dunkel und es gab ihn plötzlich nicht mehr. Langsam ging ich hinab und schaute mich im Dunkel nach Herrn Niemand um. Meine Eltern hatten mir verboten, wenn sie mich in den Keller sperrten, das Licht anzuschalten. Es war mir eine Herausforderung im Dunkel auszuharren. Mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen daran, dann war es sogar besser, als wenn ich eine Taschenlampe dabei hätte, die nur grelles Licht und schwarze Schatten warf.

Ich bin in der Schule im Turnunterricht. Wir machen Geschicklichkeitsspiele. Beim ›Völkerball‹ wird nach einem mit einem großen Ball geworfen. Der Geschickteste, der sich nicht treffen lässt, steht am Ende alleine da. Ich laufe schnell und kann Haken schlagen und gut ausweichen, bin immer auf dem Sprung. Oft stehe ich alleine vor der Klasse auf dem Sportplatz, wo die Grasbüschel wachsen und wehre mich gegen den Ball und die anderen, die darauf warten, dass das Spiel beendet wird. Ich halte lange aus und will nicht aufgeben. In anderen Spielen laufen wir in einem Kreis herum, ich werde von einem ausgewählten Gegner verfolgt, ich sehe ihn nicht, ich weiß nicht, ob ich in die falsche Richtung laufe und ihm direkt in die Arme. Es macht mich nervös, ich will nicht gefangen werden, ich habe Angst vor der Hand, die mich abschlagen würde, die Hand eines fremden Menschen, eine losgelöste Hand.

April 1990

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Blaue, schwarze und weiße Bilder || @ Bernhard Karlstetter