Türspion → Madonna

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Kapitel aus »Luzide Freunde«

Am Montag fuhr ich in die Stadt. Lucy war einige Tage weggefahren, um mit einem Galeristen über eine Ausstellung zu verhandeln.

Ich wanderte an der Isar beim Deutschen Museum entlang. Ich kaufte mir ein Bier am Kiosk an der Reichenbachbrücke, ging zur Au hinüber und setzte mich ans Wasser. Bloße Sentimentalität trieb mich: Hier hatte ich, als ich fester in der Stadt verwurzelt gewesen war, meine Träume vom süßen Leben geträumt – jetzt lebte ich sie! – war mit Freundinnen im Gras gesessen, verliebt in alles, besonders in den Himmel. Der war jetzt überkreuzt mit Kondensstreifen verflüchtigter Höhenflüge.

Ich warf Steinchen in die Isar. Ich nuckelte an meinem Bier. Beobachtete was auf dem Wasser herantrieb. Es ist nicht mehr wie damals, kam es mir in den Sinn, wie damals als, dasselbe Tun nicht so langweilig gewesen war. Das Gras war grüner gewesen, der Himmel blauer, die Luft reiner, und das Leben – feuriger.

Das waren gerade die Gedanken, die ich brauchte; war die Krise ringsum. Über Freunde hatte ich gelacht, wenn sie eine Krise für sich und die Welt entdeckt hatten; jetzt kam sie zu mir.

Sie trieb auf einem kleinen Stück Holz heran: nichts weiter als ein abgebrochener Ast, bereits tiefer ins Wasser gesunken als ein leckes Schiff. Auf wenigen halbwegs trocken verbliebenen Zentimetern lief eine Spinne hin und her, eine weiße Spinne mit goldenem Kreuz.

Sie wird ertrinken. Erkenntnis kam schockartig in mich: Sie wird ertrinken.

Ich fand mich getroffen von Selbstmitleid wieder, als das Holz an mir vorübergezogen war. Selbstmitleid hat etwas Großartiges, es hat Pathos, und Pathos liebte ich immer, Schmalzgebackenes; kleines Versagen gewinnt an Dimension, Alltag wird zur Bühne, das Leben wird zum ›Strom des Lebens‹, etc.

Plötzlich fiel ein Stein über meinem Kopf ins Wasser. Ich schrak aus meinen leeren Innereien auf und hörte Lachen.

»Jetzt haben wir ihn aufgeweckt!« »Hat über sein ödes Leben nachgedacht.« »Der springt gleich in die Isar.« »Kommt weiter, da weht Grabesluft!« »Wartet noch!« »Was willst du mit der trüben Tasse, Madonna?« »Er ist so süß! Er gefällt mir.«

Die genannte Madonna setzte sich zu mir nieder, trank einen Schluck aus meinem Bier und ermunterte mich ins Leben zurückzukehren. Das fand statt beim Flaucher an den Kiesbänken der Isar und war ein Lagerfeuer. Ich genoss studentisches Leben im Hochsommer. Bierträger kühlten im Wasser. Zu meinem Entsetzen fühlte ich mich selbst erhitzt, ließ mich von Madonna dazu verführen, ins Wasser zu springen und meine behaarte Brust aufzublähen.

Das Spiel gefiel ihr. Nahm ich an.

Sie setzte sich mir gegenüber im Schneidersitz, spielte mit meiner Brustbehaarung, drehte Löckchen. Ich sah bald nichts mehr als ihren Mund und meinte, es wäre der Augenblick ihn zu küssen, als sie sagte: »Weißt du eigentlich, dass die Schwarzfußindianer niemals einen Bären schießen?«

Damit stand sie auf, ließ ihren schwarzen Rock auf meine Füße gleiten, warf ihren Pullover daneben und lief ins Wasser. Wie angenehm roch ihre Kleidung, die sie mir überlassen hatte. Sie winkte mir, hatte lachend gesehen, dass ich ihre Kleidung beschnüffelt hatte. »Komm herein, wenn dir so heiß ist!«

Wir schwammen eine Weile nebeneinander. Sie tauchte unter, kam wieder hoch, dicht neben mir. »Sag mal, wer bist du eigentlich?« Dann: »Ich kenne dich!«

Ich erschrak, erinnerte mich an den Mann, der meinen Namen tragen wollte. Wir stiegen aus dem Wasser auf der anderen Uferseite.

»Ich kenne solche Typen wie dich! Die haben den Hustler in der Aktentasche und zu Hause eine unbefriedigte Alte, die keinen Sex mehr will. Und zwei Kinder, die …« »Was?«, unterbrach ich sie.

»Um die du dich nicht kümmerst. – Hast du Kinder?«

»Eine Tochter.« »Und wie ist sie?« »Ich kenne sie nicht. Ich war nur eine Nacht mit ihrer Mutter zusammen. Die wollte nichts von mir wissen.« Dabei dachte ich, wieder in bester Stimmung: Womit sie recht hatte. Sie hatte mich als Taugenichts erkannt, hatte nur einen Vater für ihr Kind gesucht – so war ich gewohnt es zu sehen, und damit war ich aus ihrem Leben geschieden.

»Du tust mir leid«, sagte Madonna. Verbesserte sich, indem sie ausdrückte, was sie damit meinte: »Nein, ich meine, du gefällst mir, Neil!«

»Wieso Neil?«

»Na, Neil Armstrong, der erste Mondfahrer. So kommst du mir vor.«

»Du hast eine Macke«, sagte ich. »Schon dass du dich Madonna nennst.«

»Das hat Schnuffi zu mir gesagt. Schnuffi ist mein Zuhälter. – Schau nicht so! Du musst jetzt nicht glauben, dass du was zahlen musst … mach dir nicht gleich Sorgen um dein bisschen Geld! Schnuffi ist nicht wirklich mein Zuhälter, ich nenn ihn so. Er ist mein bester Freund. Er will mir immer einen festen Typen zulegen. Er ist sehr besorgt wegen meiner Männer. Schnuffi ist rührend. Alte Schule, mit Rosen und so. Er verehrt mich. Hat mir zu meinem Geburtstag einen Strauß Rosen gebracht, vor allen und dann einen Handkuss! Ach Gott! War schon mutig.« Eine kurze Pause entstand. Ich glaubte, sie wäre nachdenklich geworden. »Merkst du nicht, dass mich friert? Du könntest unser Zeug rüberholen. Ich möchte sowieso hierbleiben, drüben ist es langweilig, Neil.«

Mein Gewissen begann mich zu beißen, ich spürte, es wären Bisse der Liebe. Glauben wollte ich nicht, wohinein ich schlitterte. Es war jenseits von mir. Ließ alles laufen, wie stets. Neugierig was daraus würde; und da sich bislang in meinem Leben nie etwas entwickelt hatte, konnte auch hier nichts sein, und werden.

»Stört dich mein Name? Ich glaub, du bist ziemlich spießig, ein richtiger Spießer bist du, Neil. Ich find dich süß, ich mag so Spießer, die vor ihrer Alten flüchten. Sind auch verkrachte Existenzen.«

Madonna, erzählte sie, heiße sie, weil sie Philosophie bei den Jesuiten an der Uni studierte. ›Ihre Jesuiten‹ waren gute Kerle. Philosophie interessierte sie nicht, es war nur die Freizeit, die sie sich damit errungen glaubte. Das Studium würde sie bald unterbrechen und Hüte machen. Hüte? Ja, Hüte. Ihre Kreationen waren verrückt.

Sie forderte mich auf, sie abzutrocknen, ich solle nicht so scheu sein. Ich wiederum glaubte ihrer so offen herausgeputzten Natürlichkeit nicht, es erschien mir wie zu sehr aus einem Teenager-Film. Hier in München konnte das nicht geschehen, oder gerade in München.

Als sie beschlossen hatte, dass es genug war, entriss sie mir das Handtuch. Ich war eingeladen in ihr Tipi, ihre WG in der Tegernseer Landstraße. Wir holten ihr Fahrrad und ich durfte mich abmühen, meine neue Squaw auf dem Gepäckträger des Drahtesels nach Hause zu schaukeln. Dabei erzählte sie mir, dass sie als Totemtier den rotbraunen Habicht hatte und somit dem Klan des Donnervogels zugehörte. Ihre Totemblume war der Löwenzahn und ihr Totemkristall der Opal. Aus Opal mache sie sich nichts, der sei etwas für Sekretärinnen. Ich wisse schon, wie sie das meinte.

Wir gingen durch ein dunkles, enges Treppenhaus in den zweiten Stock zu einer Türe, an der bereits mehrere geklebte und angeschraubte Namensschilder ihre Schraub- und Lacklöcher hinterlassen hatten.

In der Küche stellte sie mir einen jungen Mann vor, der nur Graham hieß. Er nahm mich nicht wahr. Bei zweien der Zimmer waren die Türen ausgehängt, die von Graham und die ihrer Freundin. Madonna fand das nicht gut, sie wollte ihre Intimität behalten, und so konnte sie die Türe hinter mir schließen. Eine dünne Schaumstoffmatratze mit Spannbetttuch lag auf dem Boden, ein Schreibtisch vor der Balkontüre, einige Bücher lagen darauf, hinter der Türe befand sich ein geöffneter Kleiderschrank. Postkarten aus Italien und Brasilien mit Badeschönheiten waren mit Nadeln an der Wand über dem Bett befestigt. Auf der gegenüberliegenden Seite hing das Poster eines Kaufhausgemäldes, eine Zeichnung einer jungen Frau mit großen Augen und viel klimperndem Schmuck an den Armen und um den Hals, sie lehnte an einem Mann in weißem Kaftan, ihr Busen hinter dem seidenen, frei wehenden Stoff hatte ein Windstoß freigelegt, ihr Haar flatterte. Ein siebenarmiger Kerzenleuchter stand auf Madonnas Arbeitstisch, während nichts als eine Neonröhre an der Decke hing.

Sie setze sich auf das Bett und legte mir ihre Philosophie der Namen zurecht.

Für sie war es beschlossene Sache, dass wir eine dauerhafte Freundschaft hatten. Neil war ich solange, bis sie einen passenderen Namen gefunden hatte. Währenddessen verrutschte der Halsausschnitt ihres Pullovers immerzu über die linke und die rechte Schulter, sie rückte ihn wieder zurecht, aber es wollte nichts nützen, meine Blicke wurden gelenkt. Neckisch und konsequent fragte sie mich unvermittelt, »möchtest du mit mir schlafen?«

Einer aus der Donnervogel-Familie ist konzentriert auf dieses und jenes, hatte sie mir erklärt, er hat viel Lebensfeuer und war, wenn er den Richtigen findet, der seine zahllosen Energien bündeln konnte, für die Umwelt ein wahrer Segen – ich fühlte mich wie vor einen Wagen gespannt. Ich war selbst ein zielloses Wesen.

Meine Squaw gab mir, was sie für mich vorbereitet hatte. Unterbrochen wurden wir von Graham, der ohne zu klopfen ins Zimmer kam, sich ein Buch holte und im Gehen verkündete, sollte jemand für ihn anrufen, er sei nicht da.

Madonna wollte, dass ich über Nacht bei ihr bliebe. Es wäre immer so roh, wenn der Lover danach nach Hause ginge. Sie drückte sich eng an mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

»Und wenn ich deine Tochter bin?«, sagte sie und drehte sich weg.

Ich hätte gehen sollen, jetzt wäre es noch möglich gewesen. Stattdessen genoss ich ihre Wärme.

Spät in der Nacht stand ich auf, setzte mich an ihren Schreibtisch und sah durch die Balkontüre auf den Laubbaum im Hinterhof. Es regnete, die schweren Blätter glänzten silbern auf in der Nacht. Als ein Brunnen mit hunderten kleinen Schalen schien der Baum dicht vor dem Fenster zu leben. Ich rückte leise den Tisch etwas beiseite, damit ich die Balkontüre einen Spalt öffnen konnte. Draußen stand eine Frau. Sie begann eine Unterhaltung mit mir, ich bat sie herein. Was mache ich mit zwei Frauen?, dachte ich gerade, als die Unbekannte mir an die Brust sprang und ihre Zähne mir ins Fleisch fuhren. Sie fraß sich zum Herz durch, riss es heraus, ging zur Türe und ließ mich blutend zurück.

Jetzt ist es Nacht, verdammt, und nur weil es Nacht ist, habe ich den Mut, das hier auszuhalten, dachte ich. Der Morgen wird alles wieder wegwaschen und ich werde so tun, als sei nichts geschehen. Der Tag ist hell und klar, da geschieht so etwas nicht.

Ich wünschte mir den Tag herbei.

November 1994

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Madonna || @ Bernhard Karlstetter