Nicht gerne lese ich, was mir geraten wird, wenn die Verkündigung darauf folgt: »Das musst du gelesen haben! Das brauchst du, es wird dir die Augen öffnen.« Oft höre ich diesen Rat nicht, obwohl es viele augenöffnende Bücher gibt; Musst-du-gelesen-haben-Schmöker verbreiten sich schnell über Turied- und Tudu-Listen hinaus (»100.000 Bücher, die Sie kennen sollten«). Ich denke mich selbst als jemand, der die Augen offen hat und wenn ich sie schließe, seh ich manchmal mehr.
Einen offenen Blick für alles zu haben, ist ein Masst für einen moralisch begabten Menschen. Grenzen zu sprengen ist das Leitmotiv von Kunst und Künstler, ist eine Forderung an Kunst- und Kulturschaffende. Unentwegt sind sie dabei, die Pfosten der Wahrnehmung in unbekanntes Nachbarlandsterrain hinüberzuverschieben und das Land für sich in Anspruch zu nehmen, ein Fähnchen zu stecken, zu kolonisieren und zu zivilisieren.
Im Unbekannten sind wir alle willkommen. Wir können das nur nicht sehen – weil wir dort: nichts sehen … dort ist noch kein Licht.
Hilfreich beim Horizonterweitern kann auch eine Blickverengung sein. Wir kneifen die Augen zusammen, um etwas genauer zu betrachten. Dabei gewinnt der Blick etwas an Schärfe; und drückt dem Gegenüber auch Misstrauen aus. Konzentration ist eine Verengung.
Dieses Buch ist eine Übung in Blickverengung; mit weit geöffneten Lidern. Es dringt nicht viel Licht hinein. Das Auge wird sensibel und glaubt Schimmer seien Helligkeit, die Ohren hören leises Rascheln überdeutlich und der Körper wird empfänglich für Berührung mit Gespenstern. Sie existieren für Momente der Ungewissheit.
Der Türspion ist dunkel, finster, zerrissen, unverständlich und maßlos. Es ist ein endloser Strom aus melancholischen, lebensklugen Beobachtungen und Assoziationen eines jungen Mannes, überspannt und prätentiös, vielleicht sogar … toxisch.
So sehe ich das heute, an einem regnerischen Sommertag im August, in der »Corona-Zeit«, die alles, was einmal war, zum Davor macht. Sie hat den Blickwinkel verschoben und Aussichten getrübt – ich lese es, ich höre es und ich weiß es nun. Ich frage mich, wie das zu anderen Zeiten war … Ich frage mich nicht. Ich frage mich, was wir sehen und was nicht, und ob es nicht dasselbe ist, wie das, was wir nicht sehen mögen.
Wie war es, als ich an den Erzählungen schrieb? Haben Anlässe überhaupt eine Bedeutung?
Ich stelle mir Fragen über mich selbst, wenn ich das Buch lese. Ich war einmal ein junger Mann gewesen, sage ich mir. Das nehme ich inzwischen als eine Erkenntnis; es hat sich mancher Anspruch gewandelt und ist verkümmert im Laufe der vier Jahrzehnte, die ich zurückblicke, wenn ich zur ersten Geschichte komme, Melanchthon.
Der Anlass ist mir sehr gut in Erinnerung, er hat mit der Geschichte nichts zu tun. Es war eine Blasenspiegelung bei einem Urologen; vor vierzig Jahren mit einem starren Zystoskop, das nach örtlicher Betäubung durch die Harnröhre geschoben wurde. Ich erinnere das Warten auf die Untersuchung in einem Vorraum mit anderen Männern, die das bereits mehrere Male durchgemacht hatten und dann das Zystoskop, das der Urologe herumdrehte, dass ich es in den Beckenknochen zu spüren glaubte. Melanchthon ist keine Erzählung über eine Blasenspiegelung geworden, sondern eine Zwiesprache mit einer oder mehreren Stimmen über Schwärmerei. Ein Freund, der sie gelesen, sagte, wie hätte ich ihn so genau beschreiben können? So fremd ist die Welt des andern, dass man sie aus sich hervorholt, ohne sie zu kennen. Drinnen sitzen oft dieselben ängstlichen und verschwärmten Seelen; wir sehen sie nicht.
Die folgende, Der helle Tag, entstand im Eindruck einer Reise nach Sardinien. Sie ist eine Reiseerzählung geworden, in einen entfernteren Kontinent.
Winterlichteintragungen ist die Fortsetzung von Bingo, der hymnisch-begeisterten Hurra!-Briefe an Anna aus dem Buch Tiln Rom, Töm Töff, Bingo & Ich. Die Situation von Anna und dem Briefschreiber hat sich so grundsätzlich verändert, dass sie mehr zu diesem Buch gehört.
Themen und Motive vermengen sich in allen Erzählungen (und sind auch verwandt mit Concertino für Oboe, Amsel & Vergänglichkeit). Schwarze Wolken, Träume, eine Spinne auf einem Kork, Hexen, Keller, Hängematten, Herumstreunerei, Geschehenlassen, Jesus und Völkerball. Reisen, und nicht nach Hause finden.
Themen und Motive vermengen sich in allen Erzählungen. Schwarze Wolken, Träume, eine Spinne auf einem Kork, Hexen, Keller, Hängematten, Herumstreunerei, Geschehenlassen, Jesus und Völkerball. Reisen, und nicht nach Hause finden.
Viele Erzählungen brechen mittendrin ab; Motive aus der einen tauchen in der übernächsten wieder auf: Ich konnte mich nicht entscheiden, etwas zu Ende zu schreiben – weil das Ende so plötzlich gekommen war, manchmal ohne einen Punkt. So können innere Monologe sein. Sie lassen sich nicht immer fortsetzen. Manche fingen gerade erst an, eine Stimme zu bekommen und dann sind sie schon weg. Ich würde gerne mehr erfahren über Lucy, Nele, Madonna, Johanna, Judith und die anderen Frauen … ich bin ein klein wenig enttäuscht, dass ich nicht weiß, was aus ihnen geworden ist; ich hätte sie gerne in meinem literarischen Leben erhalten gesehen und sie heute zum Plaudern über ihr Leben eingeladen.
Fragmente, die romantische Liebe zu Ruinen, die Besichtigung von unvollständigen Statuen in Museen – jedes Buch ist ein Ende eines Zeitalters … Nicht die Fliegenschwärme am Straßenrand vergessen …
Ordnung ist der außerordentliche Sonderfall der Wiederholung im Chaos.
Leicht schreibe ich solche Sätze hin … Unverständliche Sätze sind zuhauf vorhanden. Kopfschütteln kann zur Gymnastik werden.
Eine Nachricht aus der Zukunft von heute gibt mir Hinweise auf ein gewisses Fremdheitsgefühl, das ich bei manchen Absätzen in diesem Buch empfinde:
Es ist möglich, dass ich das alles nicht geschrieben habe; nicht ich, und nicht irgendein anderer … was keinen Unterschied macht.
Für die Lektüre des Buches empfehle ich Verschnaufpausen. Und eine Brille mit gelben Gläsern – die verstärken das wenige Licht, das zu erkennen ist.
13. August 2020 / 3. Januar 2022
Vor dem Türspion || @ Bernhard Karlstetter